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Die gesamte Tischrunde hörte auf zu essen und blickte Conway an, der als einziger an Bord außerhalb seiner sterilen Kabine nirgendwo Mahlzeiten zu sich nehmen durfte. Priliclas Schweben wurde ein wenig unruhiger, und Naydrad ließ einen kurzen, unübersetzbaren Nebelhornstoß ertönen, der bei Kelgianern wahrscheinlich einem ungläubigen Schnauben entsprach. Auf Fletchers Frage antwortete aber nicht Conway selbst, sondern Murchison.

„Die Diagnostiker sind tatsächlich etwas ganz Besonderes, Captain“, sagte sie und fügte lächelnd hinzu: „Und auch etwas höchst Eigenartiges.

Ihnen ist ja bereits bekannt, daß Diagnostiker das ranghöchste medizinische Personal im Hospital darstellen und daher nicht so ohne weiteres herumkommandiert werden können. Zudem weiß man bei einem Gespräch mit einem Diagnostiker nie so genau, mit wem oder was man eigentlich spricht…“

Wie Murchison weiter erklärte, verfügte das Orbit Hospital zwar über die Ausrüstung zur Behandlung jeder intelligenten Lebensform, aber kein einzelnes Lebewesen konnte auch nur einen Bruchteil der für diesen Zweck notwendigen physiologischen Daten im Kopf behalten. Natürlich eignete man sich durch Übung und Erfahrung chirurgisches Geschick und einen gewissen Grad an diagnostischen Fähigkeiten an, doch das vollständige physiologische Wissen für eine angemessene Behandlung irgendeines Patienten wurde durch das sogenannte Schulungsbandsystem vermittelt. Ein solches Band war nichts anderes als die Aufzeichnung der Gehirnströme einer medizinischen Kapazität, die derselben oder einer ähnlichen Spezies angehörte wie der zu behandelnde Patient.

Wenn zum Beispiel ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten medizinisch zu versorgen hatte, speicherte er bis zum Abschluß der Behandlung eins der DBLF-Schulungsbänder im Gehirn und ließ es anschließend wieder löschen. Die einzige Ausnahme bildeten neben den Diagnostikern die Chefärzte, zu deren Aufgabe auch die Weiterbildung des medizinischen Personals gehörte. Sie mußten häufig ein, zwei Bänder über einen längeren Zeitraum im Kopf behalten und konnten sich allenfalls damit trösten, daß es Diagnostikern noch schlechter erging als ihnen.

Ein Diagnostiker gehörte der geistigen Elite des Orbit Hospitals an. Er war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurde, permanent bis zu zehn Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.

Mit einem Schulungsband wurden einem aber nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingeimpft, sondern auch die gesamte Persönlichkeit und das komplette Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte. Praktisch setzte sich ein Diagnostiker freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus. Die fremden Persönlichkeiten, die seinen Geist scheinbar mit ihm teilten, konnten durchaus unangenehme und aggressive Wesen mit allen Arten von Reizbarkeit und Phobien sein — schließlich sind Genies, ob auf medizinischem oder irgendeinem anderen Gebiet, nur selten freundliche Leute.

Zwar wurde die eigene Persönlichkeit durch ein Schulungsband niemals vollständig unterdrückt, doch wenn man einem Diagnostiker gegenüber einen Wunsch nichtmedizinischer Natur äußerte, hing seine Reaktion stets von dem Fall oder Forschungsprojekt ab, an dem er gerade arbeitete, und wieviel Konzentration er dafür aufwenden mußte. Darüber hinaus war es auch noch eine Frage des Anstands, zunächst einmal herauszufinden, was für eine Persönlichkeit gerade partiell die Kontrolle über das Gehirn des betreffenden Diagnostikers übernommen hatte, bevor man überhaupt einen Ton sagte. Diagnostiker gehörten nicht gerade zu denjenigen, denen man Anweisungen erteilte. Selbst der Chefpsychologe des Orbit Hospitals, O'Mara, mußte sie mit einem gewissen Grad an Besonnenheit behandeln… „… deshalb können Sie den Diagnostikern leider nicht einfach befehlen, von Bord zu gehen, Captain“, fuhr Murchison fort. „Außerdem werden die Chefärzte, die diese Diagnostiker begleiten, für ihre Anwesenheit hier neben ihrer Neugier sicherlich auch noch vernünftige medizinische Gründe haben.

Des weiteren sollten Sie bedenken, daß die Diagnostiker in den letzten zwei Wochen unsere Körper praktisch Zelle für Zelle durchgecheckt haben.

Wenn wir ihnen nun nahelegen, die Gespräche mit den Besatzungsmitgliedern der Tenelphi über die Geschichte der Raumfahrt einzustellen, weil das reine Zeitverschwendung ist, würden sie uns womöglich noch gründlicher untersuchen, aber…“

„Bloß das nicht!“ unterbrach Fletcher sie hastig und seufzte. „Aber dieser Thornnastor scheint ja ein ziemlich freundliches Wesen zu sein, wenn auch ein wenig groß und tolpatschig, und er ist unser häufigster Besucher.

Könnten Sie ihm nicht vorschlagen, vielleicht nicht ganz so oft und vor allem ohne sein medizinisches Gefolge zu kommen, weil wir dann…?“

Murchison schüttelte entschieden den Kopf. „Thornnastor ist der leitende Diagnostiker der Pathologie und als solcher der Chefdiagnostiker des Orbit Hospitals. Außerdem ist er eine wichtige Nachrichtenquelle, ein Freund und mein Abteilungsleiter. Also, ich freue mich jedenfalls über Thornys Besuche. Sie finden es vielleicht seltsam, daß ein tralthanischer FGLI, ein übergroßer, elefantenartiger, sechsbeiniger warmblütiger Sauerstoffatmer mit vier Greiforganen und schon unanständig vielen Augen Geschmack an einem Gespräch über einen pikanten Klatsch aus der SNLU-Abteilung der Methanstationen findet. Vielleicht wundern Sie sich sogar, wie überhaupt irgend etwas Skandalträchtiges zwischen zwei kristallinen Lebensformen bei minus einhundertfünfzig Grad Celsius vorfallen kann, oder warum deren Freizeitaktivitäten für einen warmblütigen Sauerstoffatmer von solchem Interesse sind. Aber Sie müssen verstehen, Thornys Sympathie für andere ETs und selbst für uns Terrestrier ist einzigartig. Er ist eine der psychisch und physisch stabilsten und ausgewogensten Mehrfachpersönlichkeiten des Hospitals und…“

Fletcher hob beide Hände als Zeichen der Kapitulation und entgegnete: „Und besitzt darüber hinaus auch noch die Fähigkeit, seinem Personal einen — gelinde gesagt — ungewöhnlich hohen Grad an persönlicher Loyalität abzuverlangen. Na gut, Madam, Sie haben mich überzeugt. Was Diagnostiker betrifft, bin ich ab jetzt im Bilde, und ich kann eben nichts dagegen tun, daß diese Leute einfach über mein Schiff herfallen.“

„Leider nicht, Captain“, erwiderte Murchison mitfühlend. „Dagegen könnte nur O'Mara etwas machen. Aber der mag seine Diagnostiker viel zu gern. Einer seiner Lieblingssätze lautet, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden will, schon von vornherein verrückt sein muß…“

Während des Gesprächs zwischen Murchison und Fletcher hatte sich die Beleuchtung in der Schiffskantine fast unmerklich verändert. Der Grund dafür war das Aufflackern des Bildschirms, auf dem jetzt die zerfurchten Gesichtszüge des Chefpsychologen zu sehen waren.

„Wie kann es eigentlich angehen, daß jedesmal, wenn ich ein Gespräch unterbreche, die Leute über mich reden?“ fragte O'Mara griesgrämig.

„Aber bitte jetzt keine Entschuldigungen oder Erklärungen, Sie würden ja doch nur meine Leichtgläubigkeit auf die Probe stellen. Conway, Fletcher, ich hab Neuigkeiten für Sie. Doktor, Sie können den Raumanzug ausziehen und Ihre Kabine wieder mit der Klimaanlage des Schiffs verbinden. Sie dürfen auch wieder mit Ihren Kollegen und Kolleginnen essen und sogar in direkten Körperkontakt treten.“ Er lächelte süffisant, sah Murchison aber lieber nicht an. „Das Schiff steht ab sofort nicht mehr unter Quarantäne.

Aber offen gesagt, hat diese ganze Angelegenheit eine ernsthafte Schwachstelle in unserer Verfahrensweise bezüglich der Patientenaufnahme offenbart.

Bisher hatten wir immer angenommen, daß neue Patienten oder Verletzte keine Bedrohung darstellen, weil die Krankheitserreger einer x-beliebigen Spezies nicht auf die Angehörigen einer anderen Spezies übertragbar sind — und damit hatten wir auch recht. Da sich jedes raumreisende Wesen selbst nach den kürzesten interplanetarischen Abstechern strengen Gesundheitstests unterziehen muß, haben wir leider zu einer etwas laxen Haltung gegenüber der Ansteckungsgefahr zwischen Angehörigen der gleichen Spezies geneigt. Deshalb sind wir jetzt besonders vorsichtig und gestatten nur der Besatzung der Tenelphi, von Bord zu gehen. Sie müssen leider noch fünf Tage auf der Rhabwar bleiben. Die Besatzung der Tenelphi hat die Grippe ja zuerst bekommen, und die Crew des Ambulanzschiffs ist erst später daran erkrankt. Wenn Sie selbst also in den nächsten fünf Tagen keine Grippe kriegen, Conway, dann gibt es auf Ihrem Schiff logischerweise keine Viren mehr, und Sie und die gesamte Besatzung sind erlöst. Damit Ihnen und Ihren Leidensgenossen aber vor lauter Nichtstun nicht langweilig wird, hab ich einen Auftrag für Sie. Captain Fletcher, die Offiziere und Sie selbst haben den aktiven Dienst ja schon wieder aufgenommen. Wie schnell könnten Sie losfliegen?“