Murchison lächelte mitfühlend und sagte: „Vielleicht sind ja auch meine emotionalen Ausstrahlungen der Grund für Priliclas Zittern, Lieutenant Brenner. Ich empfinde nämlich große Freude darüber, daß mir Ihre vorausgegangenen Tests und Schlußfolgerungen fast vier Stunden Arbeit in einem sehr lästigen Raumanzug erspart haben. Oder stimmt das etwa nicht, Doktor Prilicla?“
„Aber sicher doch“, antwortete der Empath, dem das Lügen im Blut lag, solange es irgend jemanden, besonders ihn selbst, glücklich machte.
„Wissen Sie, Empathie ist nicht annähernd so exakt wie Telepathie, und Fehler dieser Art treten recht häufig auf.“
Conway räusperte sich und sagte: „Sobald wir den Patienten in einem luftleeren Schleusen- und Lagerraum auf Ebene einhundertdrei untergebracht haben, werden wir uns mit O'Mara zusammensetzen. Ich hab ihn bereits informiert. Wir werden den Traktorstrahl des Rettungsschiffs benutzen, um den Patienten in das Hospital zu überführen. Wenn Sie also an Bord der Torrance gebraucht werden, Lieutenant, dann können Sie jetzt…“
Brenner schüttelte den Kopf. „Der Captain würde hier gerne noch einige Zeit verbringen, und mir geht es genauso, wenn ich Ihnen nicht im Weg bin.
Es ist das erstemal, daß ich das Orbit Hospital besuche. Sind unter dem medizinischen Personal eigentlich noch… ehm… einige andere Menschen?“
Wenn Sie solche Menschen wie Murchison meinen, lautet die Antwort nein, dachte Conway etwas selbstgefällig. Laut sagte er: „Wir würden Ihre Hilfe natürlich begrüßen. Aber Sie wissen ja gar nicht, worauf Sie sich da einlassen, Lieutenant. Außerdem fragen Sie andauernd nach Menschen im Mitarbeiterstab. Sind Sie vielleicht fremdenfeindlich eingestellt, wenn auch nur ein wenig? Fühlen Sie sich in der Nähe von Extraterrestriern unwohl?“
„Bestimmt nicht“, antwortete Brenner mit Nachdruck und fügte dann hinzu: „Natürlich würde ich keinen davon heiraten wollen.“
Prilicla begann wieder mit dem leichten Zittern. Die rollenden Schnalzlaute in der melodischen Sprache des Cinrusskers bildeten eine angenehm klingende Hintergrundmelodie zu seiner übersetzten Stimme, als er sagte: „Aus der plötzlichen Flut angenehmer emotionaler Ausstrahlungen, für die ich in der gegenwärtigen Situation und der eben erfolgten Unterhaltung keinen ersichtlichen Grund entdecken kann, entnehme ich, daß jemand von Ihnen das gemacht hat, was Menschen einen Witz nennen.“
Auf Ebene einhundertdrei verabschiedete sich Prilicla, um auf seinen Stationen nach dem Rechten zu sehen, während die anderen den Transport des großen Vogels mit den steifen Flügeln in den Lagerraum überwachten.
Die pfeilförmigen, teilweise angewinkelten Flügel und der starr gereckte Hals erinnerten Conway an eins der altertümlichen Spaceshuttles. Seine Gedanken schweiften plötzlich ab; er hatte einen interessanten, aber etwas lächerlich anmutenden Geistesblitz, und er mußte sich daran erinnern, daß Vögel im All nicht fliegen können.
Obwohl Murchison den Patienten unter einem Ge künstlicher Schwerkraft bereits ruhiggestellt hatte, brauchte sie weitere drei Stunden, bevor sie alle benötigten Proben und Röntgenaufnahmen beisammen hatte.
Ein Teil der Verzögerung entstand, weil alle Beteiligten in Druckanzügen arbeiten mußten — wie Murchison es ausgedrückt hatte, würde nur ein geringes Risiko darin bestehen, den Patienten noch einige weitere Stunden unter luftleeren Bedingungen zu beobachten, bis sie seine atmosphärischen Bedürfnisse exakt bestimmt hätten, andernfalls würde es nämlich unter Umständen darauf hinauslaufen, nur noch seinen Verwesungsprozeß beobachten zu können.
Doch mit jeder verstreichenden Minute wuchsen ihre Kenntnisse über den Patienten, und die Testresultate, die direkt aus der Pathologie zu dem portablen Kommunikator neben ihnen übermittelt wurden, waren nicht nur aufschlußreich, sondern auch äußerst verblüffend. Conway hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren, als der fest installierte Kommunikator ertönte und um ihre Aufmerksamkeit bat. Gleich darauf wurden sie von Major O'Maras Gesicht aus dem Bildschirm heraus finster angeblickt.
„Conway, Sie hatten mit mir vereinbart, vor siebeneinhalb Minuten bei mir zu sein“, sagte der Chefpsychologe. „Zweifellos wollten Sie sich gerade auf den Weg machen, nicht wahr?“
„Tut mir leid, Sir“, entgegnete Conway, „aber die Voruntersuchung dauert länger, als ich vermutet hab, und ich möchte etwas Greifbares zu berichten haben, bevor ich mich mit Ihnen treffe.“
Ein schwaches Rauschen war zu vernehmen, als O'Mara schwer durch die Nase atmete. Im Gesicht des Chefpsychologen konnte man ungefähr so gut lesen wie in einem verwitterten Stück Basalt — mit dem es sogar in mancherlei Hinsicht eine gewisse Ähnlichkeit aufwies —, doch seine Augen enthüllten einen so scharf analytischen Verstand, daß der Major das besaß, was man fast als telepathische Fähigkeiten bezeichnen konnte.
Als Chefpsychologe eines Hospitals mit vielfältigen Umweltbedingungen war er für das geistige Wohlbefinden eines Mitarbeiterstabs verantwortlich, der sich aus mehreren tausend Wesen zusammensetzte, die wiederum mehr als sechzig verschiedenen Spezies angehörten. Obwohl er innerhalb des Monitorkorps nur den Rang eines Majors bekleidete, waren seine Machtbefugnisse innerhalb des Hospitals nur schwer einzugrenzen. Für ihn waren die Mitarbeiter die eigentlichen Patienten, und eine seiner Aufgaben war es, sicherzustellen, daß jedem einzelnen Patienten der für ihn geeignete Arzt zugeteilt wurde, sei er nun Terrestrier oder Extraterrestrier.
Selbst wenn man äußerste Toleranz und gegenseitigen Respekt beim Personal voraussetzte, gab es doch noch Anlässe genug zu Reibereien.
Potentiell gefährliche Situationen entstanden in erster Linie durch Unwissenheit und Mißverständnisse, aber auch wenn ein Wesen eine neurotische Xenophobie entwickelte, die seine geistige Stabilität oder Leistungsfähigkeit oder beides zusammen beeinträchtigte. Ein Arzt von der Erde zum Beispiel, der eine unbewußte Angst vor Spinnen hatte, würde einem cinrusskischen Patienten niemals eine angemessene klinische Versorgung zuteil werden lassen können, die zu seiner Behandlung notwendig wäre. Und wenn jemand wie Prilicla solch einen terrestrischen Patienten zu behandeln hätte, dann… Ein großer Teil seiner Arbeit bestand darin, solche Streitigkeiten innerhalb des medizinischen Stabs rechtzeitig zu entdecken und auszuräumen, während andere Mitglieder seiner Abteilung dafür sorgten, daß sich das Problem nicht so weit auswuchs, daß Patienten davon betroffen wurden. Nach O'Maras eigenen Angaben war das hohe Niveau der psychischen Stabilität innerhalb des bunten Haufens der häufig hochsensiblen Mitarbeiter allein darauf zurückzuführen, daß sie schlichtweg viel zuviel Angst vor ihm hatten, um durchzudrehen.
Mit leicht sarkastischem Unterton erwiderte er nun: „Doktor Conway, ich gebe uneingeschränkt zu, daß dieser Patient selbst für Ihre Maßstäbe ungewöhnlich ist, aber Sie müssen doch wenigstens ein paar simple Tatsachen über ihn und seinen Zustand herausgefunden haben. Lebt er? Ist er krank oder verletzt? Besitzt er Intelligenz? Oder verplempern Sie Ihre Zeit nur an einem etwas zu groß geratenen Truthahn, der im All tiefgefroren wurde?“
Conway überhörte O'Maras bissige Randbemerkungen und versuchte, nur die ernst gemeinten Fragen zu beantworten, als er erwiderte: „Der Patient lebt zwar noch, allerdings nur noch sehr schwach. Aber allen Anzeichen nach ist er nicht nur krank — die genaue Natur der Erkrankung ist uns bislang noch unbekannt —, sondern leidet auch an einer schweren Verletzung. Nämlich an einem Durchschuß durch den unteren Halsabschnitt und den oberen Brustbereich, der durch ein großes Hochgeschwindigkeitsprojektil oder einen stark gebündelten Hitzestrahl hervorgerufen worden sein könnte. Der Ein- und der Ausschuß sind durch die schwarze Bespannung oder den Überwuchs um den Körper — wir wissen noch nicht, was von beidem zutrifft — verschlossen. Was die Möglichkeit eventuell vorhandener Intelligenz angeht, so ist sie wegen der Größe des Gehirnvolumens nicht auszuschließen. Aber das Gehirn befindet sich in zu tiefer Bewußtlosigkeit, als daß es Emotionen ausstrahlen könnte.