Es klickte laut und Fletcher schwang die Tür nach oben. Im Innern des Schranks lag eine einzige wirre, blutige Masse.
Conway brauchte mehrere Minuten, um das Vorgefallene zu begreifen und die blutdurchtränkte Kleidung oder das Bettzeug um den Überlebenden herum zu entfernen. Der Container hatte früher einmal tatsächlich als Schrank gedient und wohl über zwanzig Regale enthalten.
Diese hatte man eiligst herausgezogen und die metallenen Regalträger zum Schutz des Insassen mit Bettzeug oder Kleidungsstücken gepolstert. Aber die Kollision war sehr heftig gewesen, und außerdem hatte man für eine fachmännische Befestigung der Polsterung an den Trägern keine Zeit mehr gehabt. Deshalb waren sowohl die Polsterung als auch der Überlebende im Innern des Schranks durcheinandergewirbelt worden. Der bedauernswerte Alien, der noch immer aus zahllosen Rißwunden blutete, die von den scharfkantigen Regalträgern herbeigeführt worden waren, war fest in eine Ecke des Metallschranks gepreßt worden. Durch die vom geronnenen Blut völlig verfilzten und büschelig gewordenen Pelzhaare hindurch konnte man das buntgestreifte Fell des Aliens kaum noch erkennen.
Murchison und Naydrad halfen Conway, den Überlebenden mit äußerster Vorsicht aus dem Schrank herauszuheben und auf den Untersuchungstisch zu legen. Eine der klaffenden Wunden an der Seite begann wieder stärker zu bluten, aber bisher wußten sie noch nicht genug über das Wesen, um es zu riskieren, eins der üblichen Gerinnungsmittel anzuwenden.
„In seiner Kabine hat es anscheinend keine Raumanzüge gegeben“, sagte Conway, während er den Körper des Aliens mit dem Scanner abtastete.
„Aber die Insassen der Kabine müssen ein paar Minuten vor der Kollision Bescheid gewußt haben. Unserem Patienten hier hat die Zeit anscheinend gereicht, den Schrank leerzuräumen, auszupolstern und hineinzusteigen. Die restlichen drei, die wir gesehen haben, hat er in der Kabine zurückgelassen und so dem…“
„Nein, Doktor“, widersprach der Captain. Er zeigte auf den luftdichten Schrank und fuhr fort: „Den kann man nicht von innen öffnen oder schließen. Die vier Aliens müssen sich entschlossen haben, wer von ihnen überleben sollte. Und für dieses Überleben haben sie ihr Bestes getan. Sie haben äußerst schnell und, ich würde sagen, ohne lange Diskussionen gehandelt. Als Spezies scheinen sie sehr… ah… zivilisiert zu sein.“
„Aha“, entgegnete Conway ohne aufzublicken.
Er wußte zwar nicht, ob eins der inneren Organe des Überlebenden stärker verschoben war, doch nach dem Scanner zu urteilen, wies keins der größeren Orgore Verletzungen oder eine vollkommen falsche Lage auf.
Das Rückgrat war ebenfalls unverletzt, ebenso wie der langgestreckte Brustkorb. Auf dem Rücken befand sich direkt über dem Ansatz des dicken, pelzigen Schwanzes eine hellrosa Stelle, die Conway zuerst für einen Fleck hielt, an dem das Fell fehlte, aber eine genauere Untersuchung zeigte, daß es sich um ein natürliches Merkmal handelte. Außerdem entdeckte Conway an dieser Stelle große, schuppige Flocken, an denen anscheinend irgendein Farbstoff haftete. Der gegen den Körper gedrückte und vom Schwanz teilweise verdeckte Kopf des Wesens war kegelförmig, mit dichtem Fell besetzt und erinnerte entfernt an ein Nagetier. Der Schädel selbst schien zwar unversehrt zu sein, wies aber an mehreren Stellen Spuren von subkutanen Blutungen auf, die sich bei einem Wesen ohne Gesichtsfell als starke blaue Flecken gezeigt hätten. Auch aus dem Mund des Alien rann etwas Blut, doch Conway konnte sich nicht sicher sein, ob diese Blutung die Folge einer äußeren Einwirkung oder einer durch Dekompression verursachten Lungenverletzung war.
„Helfen Sie mir, ihn in ausgestreckte Lage zu bringen“, bat er Naydrad.
„Es sieht so als, als ob er sich zu einer Kugel zusammenzurollen versucht hat. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine instinktive Verteidigungshaltung, die diese Spezies bei der Bedrohung durch natürliche Feinde einnimmt.“
„Genau das ist einer der Punkte, über die ich mir bei diesem Patienten den Kopf zerbreche“, erklärte Murchison, wobei sie von einer der Leichen aufsah, die sie gerade untersuchte. „Soweit ich das beurteilen kann, verfügen diese Wesen nämlich über keine natürlichen Angriffs- oder Verteidigungswaffen und weisen auch keinerlei Anzeichen auf, sie früher einmal besessen zu haben. Bedenkt man die Tatsache, daß dies hier wahrscheinlich die dominante intelligente Lebensform eines Planeten ist, dann verstehe ich nicht, wie sie dominierend werden konnte. Diese Wesen können nicht einmal vor Gefahren fliehen, weil ihre Gliedmaßen keine schnelle Fortbewegung zulassen. Das zum Gehen benutzte Beinpaar ist zu kurz und mit Ballen versehen, während das vordere Paar schlanker und weniger muskulös gebaut ist und in vier extrem beweglichen Zehen endet, die an der Spitze nicht einmal so einen Schutz wie Fingernägel besitzen.
Natürlich gibt es da noch die Zeichnung des Fells, aber es geschieht doch äußerst selten, daß eine Lebensform allein durch die Art der Tarnung an die Spitze des Evolutionsbaums klettert… und erst recht nicht, weil sie so lieb und knuddelig ist. Das alles ist wirklich seltsam.“
„Das klingt ja ganz so, als ob dieser Alien von einem Planeten stammte, der für Cinrussker das reinste Paradies wäre“, warf Prilicla ein, der kurz von seinem Dienst an der Luftschleuse zurückgekommen war.
Conway beteiligte sich nicht an dem Gespräch, da er noch einmal die Lunge des Patienten untersuchte. Die leichte Blutung aus dem Mund hatte ihm Sorgen gemacht. Und jetzt, wo sich der Patient für die Untersuchung in der richtigen Lage befand, gab es unverkennbare Anzeichen für Dekompressionsverletzungen in der Lunge. Da der Patient auf den Rücken gelegt worden war, hatten zudem wieder einige der tieferen Rißwunden zu bluten begonnen. Gegen die Lungen Verletzungen konnte Conway mit dem ihm auf dem Ambulanzschiff zur Verfügung stehenden Mitteln nur sehr wenig tun. Zog man aber den geschwächten Zustand des Patienten in Betracht, dann mußte die Blutung schleunigst gestillt werden.
„Weißt du im Moment schon genug über die Zusammensetzung des Bluts, um ein ungefährliches Gerinnungs- und Narkosemittel empfehlen zu können?“ fragte Conway Murchison.
„Ein Gerinnungsmittel wüßte ich, aber beim Anästhetikum hab ich noch Zweifel“, antwortete Murchison. „Damit würde ich gerne noch bis zur Rückkehr ins Hospital warten. Thornnastor könnte bestimmt ein vollkommen sicheres Narkosemittel vorschlagen oder herstellen. Ist es denn sehr dringend?“
Bevor Conway antworten konnte, erwiderte Prilicla: „Ein Anästhetikum ist völlig überflüssig, mein Freund. Der Patient liegt in tiefer Bewußtlosigkeit, und das wird sich auch in nächster Zeit nicht ändern. Sein Zustand verschlechtert sich langsam, wahrscheinlich durch die eingeschränkte Sauerstoffaufnahme der verletzten Lunge. Der Blutverlust trägt sicherlich auch dazu bei. Diese Regalträger im Schrank haben wie stumpfe Messerklingen gewirkt.“
„Das stimmt“, pflichtete ihm Conway bei. „Und falls Sie damit andeuten wollen, daß der Patient so schnell wie möglich ins Hospital gebracht werden sollte, dann bin ich mit Ihnen darin ebenfalls einer Meinung. Aber immerhin schwebt er nicht in akuter Lebensgefahr, und bevor wir von hier abfliegen, möchte ich absolut sichergehen, daß sich hier keine weiteren Überlebenden befinden. Wenn Sie also weiterhin seine emotionale Ausstrahlung überwachen würden und mir jede unerwartete Veränderung seines…“
„Es kommen weitere Wrackteile in Sicht“, unterbrach ihn Haslams Stimme aus dem Wandlautsprecher. „Doktor Prilicla, kommen Sie bitte in die Luftschleuse.“
„Ja, mein Freund“, versicherte er Conway, während er bereits behende an der Decke entlang zur Luftschleuse zurücktrippelte.
Bevor sich Conway an die Behandlung der äußeren Verletzungen des Schiffbrüchigen machen konnte, mußte er noch einen kleineren Aufstand von Naydrad niederschlagen. Wie alle anderen Angehörigen ihrer Spezies — die mit einem sehr schönen, silbernen Pelz ausgestattet war — es getan hätten, äußerte sie ihren tiefen Abscheu gegen jeden chirurgischen Eingriff, der den nach ihrer Ansicht nach kostbarsten Besitz eines Wesens beschädigen oder verunstalten konnte: das Fell. Für einen Kelgianer kam das Entfernen schon eines winzigen Stückchen Pelzes einer persönlichen Tragödie gleich, die nur allzuoft dauerhafte psychische Schäden zur Folge hatte — das Fell stellte für die kelgianische Spezies nämlich ein dem gesprochenen Wort gleichwertiges Kommunikationsmittel dar und wuchs nicht nach. Ein DBLF mit entstelltem Pelz hatte es sehr schwer einen Lebensgefährten zu finden, der bereit war, jemanden zu akzeptieren, der seine Gefühle nur mangelhaft äußern konnte. Murchison mußte der kelgianischen Oberschwester erst zusichern, daß das Fell des Überlebenden weder beweglich noch zur Äußerung von Gefühlen bestimmt war und zweifellos nachwachsen würde, bevor Naydrad zufrieden war. Sie weigerte sich natürlich nicht, Conway bei dem recht harmlosen chirurgischen Eingriff zu assistieren — doch sowohl durch ihre Stimme als auch durch ihr sich kräuselndes und zuckendes Fell verlieh sie bei der Rasur und der Säuberung des Operationsfelds ihrem Protest Ausdruck.