Während Conway auf die kreuz und quer über den Körper des Patienten verteilten Wunden Gerinnungsmittel auftrug und sie dann vernähte, unterbrach Murchison hin und wieder Naydrads Monolog, indem sie die beiden über irgendwelche Einzelheiten informierte, die sie durch die von ihr fortgesetzte Untersuchung und Sezierung der Leichname herausgefunden hatte.
Die Spezies hatte zwei Geschlechter, weiblich und männlich, und das Fortpflanzungssystem schien ziemlich normal zu sein. Im Gegensatz zu dem Patienten, dessen Fell anscheinend etwas stumpfer wirkte und weniger Farbvariationen aufwies, hatten die toten Aliens beiderlei Geschlechts jedoch ein wasserlösliches Färbemittel zur künstlichen Steigerung der Farbintensität der Streifen in ihrem Körperfell benutzt, die sonst genauso wie die des Patienten ausgesehen hätten. Die Farbstoffe waren eindeutig zu kosmetischen Zwecken aufgetragen worden. Doch warum der Patient, oder besser, die Patientin ihr Fell nicht gefärbt hatte, war Murchison allerdings nicht klar.
Ein möglicher Grund konnte die noch nicht voll erlangte Geschlechtsreife der Patientin oder ein ritueller Kult sein, nach dem ein vorpubertärer Angehöriger dieser Spezies keine Kosmetika benutzte oder benutzen durfte. Es konnte natürlich auch sein, daß die Patientin zwar schon erwachsen, aber nur von kleinem Wuchs war, oder einer Gesellschaftsschicht innerhalb der Spezies angehörte, die das Schminken des Fells ablehnte. Eine genauso einleuchtende Erklärung wäre, daß die Katastrophe eintrat, bevor sie die Möglichkeit zum Schminken hatte. Die einzige Substanz, die einem kosmetischen Mittel ähnelte, waren die wenigen Stückchen bräunlicher Pigmentschuppen, die an der nackten Stelle über dem Schwanz der Patientin geklebt hatten, doch diese Substanz war während der präoperativen Maßnahmen entfernt worden. Da ihre Freunde oder vielleicht auch Familienangehörigen die Überlebende kurz vor der Kollision in einen luftdichten Metallschrank gesteckt hatten, glaubte Murchison, daß es sich eher um ein junges und wahrscheinlich vorpubertäres weibliches Wesen als um eine kleinwüchsige erwachsene Frau handelte.
Denn die Föderation war bisher noch nie auf eine intelligente Spezies gestoßen, in der sich die Erwachsenen nicht zur Rettung der Kinder selbst geopfert hätten.
Während sich Conway, Naydrad und Murchison mit einem lebenden und drei toten Aliens befaßten, kam von Zeit zu Zeit Prilicla mit Berichten über den negativen Verlauf der Suche nach weiteren Überlebenden von der Schleuse aufs Unfalldeck. Bei diesen Gelegenheiten teilte er auch gleichzeitig Unerfreuliches über die gerettete Schiffbrüchige mit, deren Zustand sich nach seiner Interpretation ihrer emotionalen Ausstrahlung weiterhin verschlechterte. Conway wartete, bis Prilicla wieder zur Luftschleuse abberufen wurde, und setzte sich erst dann mit Fletcher im Kontrollraum in Verbindung — er wollte seinen cinrusskischen Freund nicht mit dem belasten, was möglicherweise zu einer regelrechten Flut an unangenehmer emotionaler Ausstrahlung seinerseits hätte werden können.
„Captain, ich muß eine wichtige Entscheidung treffen und brauche Ihren Rat“, sagte er. „Wir haben jetzt zwar die Behandlung der äußeren Verletzungen der Patientin erfolgreich abgeschlossen, aber die Lunge ist durch die Dekompression schwer in Mitleidenschaft gezogen worden.
Deshalb ist eine Verlegung ins Orbit Hospital dringend erforderlich. Als Übergangsmaßnahme versorgen wir die Patientin mit sauerstoffangereicherter Luft, aber trotzdem verschlechtert sich ihr Zustand — zwar nicht rapide, aber doch stetig. Wenn wir noch weitere vier Stunden in dieser Gegend bleiben würden, wie wären dann Ihrer Meinung nach die Chancen für die Bergung weiterer Überlebender?“
„Praktisch gleich Null, Doktor“ antwortete der Captain.
„Ich verstehe“, entgegnete Conway skeptisch. Er hatte mit einer wesentlich komplizierteren und von Wahrscheinlichkeitsberechnungen und näheren Wortbestimmungen durchsetzten Antwort gerechnet. Jetzt fühlte er sich erleichtert und besorgt zugleich.
„Sie müssen wissen, Doktor, daß bei den drei ersten von uns untersuchten Wrackteilen die Chancen am größten waren, Überlebende zu finden“, fuhr Fletcher | fort. „Danach hat die Wahrscheinlichkeit für das Aufspüren von Überlebenden stark abgenommen, genauso wie auch die Größe der Wrackteile, die wir uns angesehen haben, von Mal zu Mal geringer geworden ist. | Wenn Sie nicht an Wunder glauben, Doktor, dann vergeuden wir hier nur unsere Zeit.“
„Ich verstehe“, erwiderte Conway, wobei er diesmal etwas weniger skeptisch klang.
„Falls Ihnen das helfen sollte, eine Entscheidung zu treffen, Doktor, kann ich Ihnen sagen, daß die Bedingungen für den Subraumfunk hier draußen ausgezeichnet sind“, fuhr der Captain fort. „Mit dem Kontakt- und Vermessungskreuzer Descartes haben wir bereits in beide Richtungen Funkkontakt hergestellt. Wenn Hinweise auf eine unbekannte intelligente Spezies entdeckt werden, ist das meine Pflicht. Wegen der Dringlichkeit dieser Angelegenheit wird die Besatzung der Descartes das Wrack nach allen verfügbaren Daten über die neue Spezies durchforsten und durch eine Analyse der Geschwindigkeiten und Flugrichtungen der Trümmerteile zumindest grob den Abflugpunkt und das Ziel des Alienschiffs bestimmen.
Hier draußen gibt es ja relativ wenig Sterne, deshalb müßten die Leute von der Descartes den Heimatplaneten und sein Sternsystem ziemlich leicht ausfindig machen können — schließlich sind die für so etwas Spezialisten.
Höchstwahrscheinlich wird die Kontaktaufnahme mit den Aliens schon innerhalb der nächsten paar Wochen gelingen, vielleicht sogar noch eher.
Außerdem hat die Descartes zwei Planetenlandefähren an Bord, die man im All sowohl als Such- als auch als Rettungsschiff für Kurzstrecken einsetzen kann. Natürlich haben die nicht Prilicla an Bord, aber mit Hilfe dieser kleinen Schiffe können die restlichen Wrackteile viel schneller durchsucht werden als das durch uns der Fall wäre, Doktor.“
„Wann trifft die Descartes ein?“ fragte Conway.
„Unter Berücksichtigung verschiedenster Unwägbarkeiten beim Auftauchen aus dem Hyperraum bezüglich der Astronavigation spätestens in vier bis fünf Stunden“, antwortete Fletcher.
„Na prima“, entgegnete Conway, wobei er seine Erleichterung gar nicht erst zu verbergen versuchte. „Wenn sich im nächsten Wrackteil keine Überlebenden befinden sollten, dann kehren wir unverzüglich zum Hospital zurück, Captain.“ Er schwieg einen Moment lang, blickte auf die Überlebende und die Leichname ihrer Artgenossen, die es nicht geschafft hatten, und sah dann Murchison an. „Falls die Descartes den Heimatplaneten findet und schnell Kontakt herstellt, richten Sie der Mannschaft aus, sie möge um medizinische Hilfe für unsere Freundin hier bitten“, fügte er hinzu. „Die Crew soll sich nach einem einheimischen Arzt erkundigen, der freiwillig zum Orbit Hospital mitkommt, um dort bei der Behandlung zu assistieren oder die Patientin, wenn nötig, ganz zu übernehmen. Bei Patienten, die uns völlig unbekannten Lebensformen angehören, dürfen wir uns keinen falschen Stolz leisten…“