Conway dachte auch daran, daß ein solcher einheimischer Arzt bestimmt bereit sein würde, sein Wissen für ein Schulungsband zur Verfügung zu stellen, sobald er sich erst einmal an die Vielfalt der Lebensformen im Orbit Hospital gewöhnt hatte. Sollte nämlich noch einmal ein Angehöriger seiner Spezies als Patient eingeliefert werden, würden die Mitarbeiter des Orbit Hospitals auf diese Weise wissen, was sie zu tun hatten.
„Identifizieren Sie sich bitte“, forderte sie eine ausdruckslose Translatorstimme von der Anmeldezentrale auf.
„Patient, Besucher oder Mitarbeiter? Und welche Spezies?“ Die Rhabwar war erst vor wenigen Minuten im Normalraum wieder aufgetaucht, und das Orbit Hospital wirkte aus der Ferne lediglich wie ein recht großer, verschwommener Planet vor einem Hintergrund aus kleineren und helleren Sternen. „Falls Sie sich allerdings wegen körperlicher Verletzungen, geistiger Verwirrung oder Unkenntnis der relevanten Einzelheiten über die genaue physiologische Klassifikation nicht sicher sind oder diese überhaupt nicht angeben können, stellen Sie bitte Sichtkontakt her.“
Conway sah Captain Fletcher an, der die Mundwinkel nach unten zog und gleichzeitig eine Augenbraue hob. Mit diesem Mittel wortloser Verständigung drückte der Captain die Ansicht aus, daß derjenige, der diese medizinische Fachsprache verstand, auch am besten zur Beantwortung der Fragen geeignet wäre.
„Hier spricht Chefarzt Doktor Conway, Ambulanzschiff Rhabwar“, meldete sich Conway in forschem Ton. „An Bord sind Angehörige des Personals und eine Patientin, alle warmblütige Sauerstoffatmer. Die Klassifikationen der Besatzung lauten: terrestrische DBDGs, cinrusskischer GLNO und kelgianische DBLF. Die Patientin ist eine DBPK unbekannter Herkunft. Sie hat Verletzungen davongetragen, die eine dringende Behandlung erfordern und…“
„Sie werden bereits erwartet, Rhabwar, und ich hab Sie hier als Flugverkehr mit Vorrang verzeichnet“, unterbrach ihn die Stimme aus der Anmeldezentrale. „Bitte benutzen Sie Anflugebene rot zwei und folgen Sie den rot-gelb-roten Baken zur Schleuse fünf…“
„Aber Schleuse fünf ist doch eine…“, protestierte Conway.
„…die, wie Sie wissen, Doktor, der Haupteingang zu den Ebenen der wasseratmenden AUGLs ist“, fuhr die Stimme aus der Anmeldezentrale fort. „Die für Ihre Patientin reservierte Unterkunft befindet sich jedenfalls in der Nähe von Schleuse fünf. Außerdem ist die von Ihnen unter diesen Umständen normalerweise benutzte Schleuse drei von über zwanzig verletzten Hudlarern blockiert. Während der Montage einer melfanischen Orbitalfabrik hat sich ein Bauunfall ereignet, bei dem Strahlung freigesetzt worden ist. Aber mir sind zur Zeit nur die medizinischen Einzelheiten bekannt.
Thornnastor hatte zwar keine Ahnung, was für ein Wesen Sie mitbringen würden, hat es aber von vornherein für ratsam gehalten, Ihre Patientin nicht einmal geringster Reststrahlung auszusetzen. Ihre geschätzte Ankunft, Doktor?“
Conway blickte Fletcher fragend an, und der Captain antwortete: „In zwei Stunden und sechzehn Minuten.“
Das wäre reichlich Zeit, um die DBPK-Patientin in die Drucktragbahre zu legen — eine solche Trage gewährleistete die Aufrechterhaltung des Lebenserhaltungssystems eines Patienten und schützte ihn vor dem luftleeren Raum, vor Wasser und einer ganzen Anzahl todbringender Atmosphären. Auch das medizinische Team der Rhabwar konnte in aller Ruhe leichte Anzüge zur Begleitung der Drucktrage anlegen. Die verbleibende Zeit konnte man über Funk den leitenden Diagnostiker der Pathologie, Thornnastor, zu den Vorbefunden bezüglich der überlebenden DBPK und zu den Ergebnissen von Murchisons Untersuchung an den Leichen befragen. Thornnastor würde wahrscheinlich um einen baldigen Transport der Leichen ins Hospital bitten, um durch eine gründlichere Untersuchung ein vollständiges Bild des Stoffwechsels der DBPK-Lebensform zu gewinnen.
Nach dieser kurzen Denkpause übermittelte Conway schließlich die Schätzung des Captains an die Zentrale und fragte, von wem das medizinische Personal der Rhabwar an Schleuse fünf empfangen werden würde.
Die Stimme von der Anmeldezentrale gab eine Anzahl kurzer, unübersetzbarer und bei einem ET wahrscheinlich dem Stottern gleichzusetzende Laute von sich, und fuhr erst dann verständlich fort: „Tut mir leid, Doktor. Nach meinen Instruktionen steht das Personal der Rhabwar genaugenommen noch immer unter Quarantäne und darf das Hospital auf keinen Fall betreten. Aber Sie persönlich dürfen natürlich die Patientin begleiten, vorausgesetzt, Sie öffnen Ihren Anzug nicht. Die Hilfe Ihres Teams wird bei der Behandlung der Patientin nicht gebraucht, Doktor, aber die Vorgänge werden auf den Unterrichtskanälen übertragen.
Das Team kann das Ganze also mitverfolgen und, falls notwendig, auch Ratschläge erteilen.“
„Vielen Dank auch“, erwiderte Conway, wobei der sarkastische Unterton in seiner Stimme durch die Übersetzung natürlich verlorenging.
„Keine Ursache!“ entgegnete das Wesen in der Anmeldezentrale. „Und jetzt hätte ich gern den Kommunikationsoffizier gesprochen.
Chefdiagnostiker Thornnastor hat um eine direkte Sprechverbindung mit Pathologin Murchison und Ihnen gebeten, um sich mit Ihnen zu beraten und eine vorläufige Diagnose zu stellen…“
Gut zwei Stunden später wußte Thornnastor alles über die Patientin, was man ihm über Funk hatte vermitteln können. Nach dem Andocken wurde sie äußerst behutsam in der Drucktragbahre durch den Bordtunnel der Rhabwar in den höhlenartigen, als Schleuse fünf bezeichneten Landeflughafen gebracht. Neben Conway gestattete man zur Überwachung der emotionalen Ausstrahlung auch Prilicla die Begleitung der Patientin. Die Hospitalleitung hatte schließlich nach einigem Hin und Her eingesehen, daß der kleine Cinrussker kaum den Grippevirus in sich tragen konnte, von dem die Besatzung der Rhabwar befallen worden war. Davon abgesehen war er gegenwärtig der einzig medizinisch qualifizierte Empath im Mitarbeiterstab des Orbit Hospitals.
Das Transportteam der Unfallaufnahme — Terrestrier in leichten Anzügen mit Helmen, Gürteln und Stiefeln in hellblauer Leuchtfarbe — schob die Drucktragbahre sofort zur Innenluke von Schleuse fünf. Während sich langsam die Außenluke schloß, strömte in die noch vor kurzem luftleere Schleuse sprudelndes und kalt dampfendes Wasser. Als sich das Wasser beruhigt hatte und Conway wieder etwas sehen konnte, verfrachtete das Transportteam die Trage ziemlich unsanft in die lauwarmen grünen Tiefen der Station, die zur Behandlung der wasseratmenden Bewohner von Chalderescol diente.
Conway war regelrecht froh, daß die Patientin nicht bei Bewußtsein war.
Denn die Chalder, die trotz ihrer enormen Bandbreite an möglichen Erkrankungen nur äußerst selten zur Bewegungsunfähigkeit verdammt waren, schwammen schwerfällig um die Trage herum — wie alle Patienten legten sie bei jedem Anlaß, der die Monotonie des Stationsalltags zu unterbrechen versprach, unverhohlene Neugier an den Tag.
Die AUGL-Station glich einer ausgedehnten Unterwasserhöhle, die für chalderische Augen mit einer Vielzahl einheimischer Kunstpflanzen geschmackvoll dekoriert war, von denen einige offensichtlich fleischfressend waren. Das war jedoch nicht die normale Umwelt der kulturell und technologisch hochentwickelten Bewohner von Chalderescol, sondern die von gesunden jungen Chaldern im Urlaub aufgesuchte Umgebung. Laut Chefpsychologe O'Mara stellte diese primitive Umwelt eine wichtige Hilfe bei der Genesung dar — und der Chefpsychologe irrte sich in solchen Punkten äußerst selten. Doch selbst für einen über die Vorgänge genauestens unterrichteten terrestrischen DBDG wie Conway war dies ein geradezu gespenstischer Ort.
Eine vollkommen neue Lebensform, deren Sprache erst noch in den Übersetzungscomputer des Hospitals eingegeben werden mußte, würde natürlich überhaupt nicht wissen, was sie davon halten sollte — und erst recht nicht bei einer plötzlichen Konfrontation mit einem der AUGL-Patienten.
Ein erwachsener Bewohner von Chalderescol erinnerte an ein zwölf Meter langes Krokodil, das vom relativ überproportionierten Maul bis zum Schwanz gepanzert und in der Mitte von einem Gürtel bandförmiger Tentakel umgeben war. Trotz Priliclas beruhigend wirkender Anwesenheit war es für die innere Ruhe der Patientin besser, wenn sie die bis auf wenige Meter an die Trage heranschwimmenden chalderischen AUGLs nicht sah, die den Neuankömmling in Augenschein nehmen und ihm alles Gute wünschen wollten.