Prilicla schwamm als vage sichtbare insektenartige Gestalt in der silbrig schimmernden Anzugblase ein kleines Stück vor der Gruppe, und da die emotionale Ausstrahlung auf dieser Station gelegentlich explosionsartig anstieg, zitterte er hin und wieder. Conway wußte aus Erfahrung, daß für diese Reaktion weder die Patientin noch die neugierigen AUGLs verantwortlich waren, sondern vielmehr die vom Transportteam ausgehenden Gefühle der Besorgnis, das die Trage an als Betten dienenden Stahlrahmen, medizinischen Geräten und der künstlichen Flora der Station vorbei und durch den wassergefüllten Teil des Korridors dahinter manövrieren mußte. Die Trocken- und Kühlmittel in den leichten Anzügen des Transportteams funktionierten im warmen Wasser der AUGL-Abteilung nicht wie gewohnt. Und wenn in so einer Umgebung ein körperlicher Kraftakt erforderlich wurde, dann schwoll der Zorn der Männer direkt proportional zum Temperaturanstieg im Anzug an.
Die Beobachtungsstation für die neue Patientin war früher Teil des Voruntersuchungsbereichs der Unfallabteilung für warmblütige Sauerstoffatmer gewesen, bevor diese Sektion erweitert und deshalb in die dreiunddreißigste Ebene verlegt wurde. Ursprünglich wollte man den nun freigewordenen Raum als zusätzlichen AUGL-Operationssaal ausstatten, sobald die technische Abteilung diese Aufgabe in Angriff nehmen konnte.
Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellte er nicht viel mehr als eine große, würfelförmige Luft- und Lichtblase inmitten des gewaltigen Meers der chalderischen Station und der dazugehörigen Versorgungseinrichtungen dar.
In der Mitte des Raums stand allerdings ein Untersuchungstisch, der auf die jeweilige Körperform einer großen Bandbreite von Lebewesen verschiedenster physiologischer Klassifikationen eingestellt werden konnte und den man zusätzlich in einen Operationstisch oder in ein Bett verwandeln konnte. An den jeweils gegenüberliegenden Wänden der Station waren die gleichermaßen unspezialisierten und komplizierten Geräte aufgestellt, die man zum Erhalt des Lebens und zur intensiven Betreuung von Patienten benötigte, deren Lebensvorgänge mitunter ein Buch mit sieben Siegeln waren.
Trotz seiner Größe war der Raum zur Zeit überfüllt — und zwar hauptsächlich mit Ärzten, die hier überhaupt nichts zu suchen hatten und nur aus beruflicher Neugier anwesend waren. Conway sah einen der illensanischen PVSJs, die eine membranartige Schuppenhaut besaßen, und dessen weiter Anzug bis auf den in ihm enthaltenen blaßgelben Chlornebel durchsichtig war. Sogar ein TLTU in einer auf Raupenketten montierten Druckkugel war anwesend. Das war für ein Wesen, das unter hohem Druck lebte und extrem heißen Dampf atmete, die einzige Möglichkeit, beruflich mit Patienten und Kollegen mit weniger exotischem Stoffwechsel in Verbindung zu treten. Die restlichen Anwesenden waren warmblütige Sauerstoffatmer — Melfaner, Kelgianer, Nidianer und ein Hudlarer, die außer ihrer Neugier noch eine weitere Gemeinsamkeit hatten: die goldenen oder in Gold eingefaßten Abzeichen, die sie als Diagnostiker und Chefärzte auswiesen.
Nur selten hatte Conway so viele medizinische Kapazitäten auf solch engem Raum konzentriert gesehen.
Sie alle machten bereitwillig Platz, als das Transportteam die Patientin unter Thornnastors persönlicher Aufsicht von der Drucktragbahre auf den Untersuchungstisch legte. Man ließ die Trage geöffnet und rollte sie wieder zum Eingang der Station, damit sie nicht im Weg stand, woraufhin sämtliche Anwesenden an den Untersuchungstisch näher herantraten.
Conway wußte, daß Murchison und Naydrad jetzt auf dem Bildschirm der Rhabwar die von Thornnastor begonnene Voruntersuchung beobachteten, die in jeder Hinsicht mit der schon von Murchison und Conway auf dem Ambulanzschiff durchgeführten identisch war. Der leitende Diagnostiker der Pathologie überprüfte sorgfältig die Lebenszeichen, obwohl sich selbst zu diesem Zeitpunkt noch niemand sicher sein konnte, welcher Puls, Blutdruck und welche Atmungsfrequenz für einen DBPK eigentlich normal war. Danach tastete er die Patientin ausführlich und bis in die Tiefen des Körpers hinein mit dem Scanner ab und führte eine vorsichtige Untersuchung auf körperliche Verletzungen und Deformierungen durch. Für die vielen Ärzte, die über die Unterrichtskanäle zusahen, beschrieb Thornnastor jeden Schritt in allen Einzelheiten und erläuterte sämtliche Befunde und Schlußfolgerungen. Hin und wieder hielt er inne und stellte Murchison auf dem Ambulanzschiff oder Conway auf der Station Fragen, die zumeist den Zustand der Patientin unmittelbar nach deren Bergung betrafen oder um möglicherweise hilfreiche Tips zu bekommen.
Immerhin hatte Thornnastor seine unangefochtene Stellung als Chefpathologe nur erreicht, indem er Fragen gestellt und über deren Antworten nachgedacht hatte, anstatt nur sich selbst zuzuhören.
Schließlich beendete Thornnastor die Untersuchung. Der Chefdiagnostiker richtete seinen gewaltigen Körper zu voller Größe auf, wobei das knöcherne Schädeldach über dem Gehirn fast vollständig zwischen den Wölbungen der drei riesigen Schultern verschwand. Die vier Stielaugen, die wie ein Teleskop ausgefahren werden konnten, betrachteten gleichzeitig die Patientin, die um den Untersuchungstisch stehenden Ärzte und die aufgestellten Kameras, durch die Murchison und Naydrad an Bord der Rhabwar und die restlichen, nicht anwesenden Zuschauer die Vorgänge mitverfolgten. Dann teilte er seine Erkenntnisse mit.
Die schwersten Verletzungen hatte die Lunge der Patientin davongetragen, in der durch die Auswirkungen der Dekompression Zellgewebe geplatzt und ausgedehnte Blutungen hervorgerufen worden waren. Thornnastor beabsichtigte, diese Situation zu entschärfen, indem er mittels eines kleineren chirurgischen Eingriffs die Flüssigkeit durch die Brusthöhle absaugen wollte. Zusätzlich hatte er vor, einen Luftröhrenschnitt vorzunehmen, um so durch Zufuhr von reinem Sauerstoff die Atmung der Patientin zu unterstützen. Für warmblütige Sauerstoffatmer stand dem Orbit Hospital zwar ein breitgefächertes Angebot an Medikamenten zur Regeneration von Zellgewebe zur Verfügung, aber um herauszufinden, welches dieser Mittel für die DBPK-Spezies geeignet gewesen wäre, hätten aufwendige Tests vorgenommen werden müssen, die wenigstens zwei Tage in Anspruch genommen hätten. Ohne einen sofortigen chirurgischen Eingriff würde die Patientin aber nicht mehr länger als zwei Stunden leben. Bei keiner der von Thornnastor vorgeschlagenen Maßnahmen handelte es sich um langwierige Prozeduren, und die damit verbundenen Schmerzen würden minimal sein. Da nach Priliclas Worten die Patientin zudem in zu tiefer Bewußtlosigkeit lag, um überhaupt Schmerzen empfinden zu können, wollte der Chefpathologe mit der Assistenz eines melfanischen Chefarztes und einer kelgianischen Operationsschwester unverzüglich mit dem Eingriff beginnen.
Unter Berücksichtigung des Zustands der Patientin hielt Conway das ebenfalls für die einzig richtige Maßnahme. Es ärgerte ihn allerdings, daß die Operation ohne seine Assistenz durchgeführt werden sollte, schließlich hatte er bereits Erfahrungen mit der DBPK-Lebensform gesammelt. Aber dann konnte er dem respektvollen Geflüster der Zuschauer entnehmen, daß es sich bei dem assistierenden melfanischen Chefarzt um Edanelt handelte, der unwidersprochen als einer der besten ET-Chirurgen des Orbit Hospitals galt. Edanelt hatte ständig vier Schulungsbänder im Kopf gespeichert und stand Gerüchten zufolge kurz vor der Beförderung zum Diagnostiker. Wenn ein Chirurg vom Rang eines Edanelt zum Assistieren gerade gut genug war, dann sollte Conway wenigstens dazu in der Lage sein, bei der Operation auch ohne die Ausstrahlung von allzu großen Neidgefühlen zuzusehen.
Trotz der vielen hundert, von Tralthanern durchgeführten Operationen, die Conway schon mitverfolgt hatte, wunderte er sich immer wieder, wie solch eine riesige und körperlich unbeholfene Spezies die besten Chirurgen der Föderation hatte hervorbringen können. Die DBPK-Patientin ahnte gar nicht, was für ein Glück sie hatte. Denn im Orbit Hospital sagte man, daß kein auch noch so hoffnungslos erkranktes Wesen jemals verloren war, wenn es unter der persönlichen Obhut von Thornnastor stand. Der Diagnostiker selbst soll einmal dazu gesagt haben, daß so etwas schon deshalb vollkommen undenkbar sei, weil davon überhaupt nichts in seinem Vertrag stünde… „Sie kommt wieder zu Bewußtsein“, meldete Prilicla keine zehn Minuten nach Beendigung der Operation plötzlich. „Und zwar sehr schnell.“