„Das scheint eine berechtigte Annahme zu sein“, entgegnete O'Mara.
„Wir haben es also mit einem Wesen zu tun, das zwar natürliche Eitelkeit, aber keine natürlichen Waffen besitzt.“
Farbe… schoß es Conway plötzlich durch den Kopf. Im hintersten Winkel seines Gehirns regte sich zwar eine Idee, aber er konnte ihr noch keine konkrete Form geben. Es hatte irgend etwas mit Farbe oder vielleicht mit den verschiedenen Verwendungsarten von Farbe zu tun. Schmuck, Isolierung, Schutz, Warnung… Das mußte es sein! Das Auftragen von organisch inaktiver, ungiftiger und ungefährlicher Farbe… Er begab sich rasch zum Instrumentenschrank und nahm eine der Sprühdosen heraus, mit denen sich eine ganze Anzahl von ETs eine Schutzschicht auf die Greiforgane auftrug, anstatt Operationshandschuhe anzuziehen. Conway probierte die Dose kurz aus, weil der Sprühkopf eigentlich nicht für die Finger eines DBDGs vorgesehen war. Als er sich sicher war, mit der Dose punktgenau sprühen zu können, ging er zu der Patientin hinüber, die in ihrem weichen Pelz schutzlos dalag.
„Was, zum Teufel, machen Sie da, Conway?“ fragte O'Mara.
„Unter diesen Umständen dürfte dem Patienten die Farbe der Schutzschicht ziemlich egal sein“, sagte Conway, der lediglich laut dachte und im Moment vom Chefpsychologen überhaupt keine Notiz nahm.
„Prilicla, kommen Sie doch bitte mal näher an die Patientin heran“, fuhr er fort. „Die emotionale Ausstrahlung der DBPK wird sich in den nächsten paar Minuten merklich verändern, das spüre ich ganz deutlich.“
„Ich bin mir Ihrer Gefühle durchaus bewußt, mein Freund“, antwortete Prilicla.
Conway lachte nervös und entgegnete: „In dem Fall, mein Freund, spüre ich ziemlich deutlich, daß ich die Lösung gefunden habe. Aber wie sieht es denn mit den Emotionen der Patientin aus?“
„Die sind unverändert, mein Freund“, antwortete der Empath. „Die Patientin empfindet eine allgemeine Besorgnis. Das gleiche Gefühl hatte ich schon nach ihrem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit und der Überwindung der anfänglichen Angst und Verwirrung festgestellt. Im Moment strahlt die DBPK Besorgnis, Traurigkeit, Hilflosigkeit und… und Schuldgefühle aus.
Vielleicht denkt sie an ihre toten Freunde…“
„Sie denkt an ihre Freunde, ja“, entgegnete Conway, drückte auf den Kopf der Dose und besprühte die kahle Stelle über dem Schwanz der Patientin mit der knallroten, chemisch inaktiven Schutzfarbe. „Aber sie denkt dabei an ihre Freunde, die leben.“
Die Farbe trocknete schnell und wurde zu einem stabilen, biegsamen Schutzfilm. Nachdem Conway noch eine zweite Schicht aufgesprüht hatte, zog die Patientin den Kopf unter dem Schwanz hervor und betrachtete den frisch versiegelten Fleck nackter Haut. Dann wandte sie das Gesicht Conway zu und musterte ihn fest mit ihren großen, sanften Augen. Conway unterdrückte den unwiderstehlichen Drang, ihr den Kopf zu streicheln.
Prilicla trillerte aufgeregt — diesen Laut konnte der Translator natürlich nicht übersetzen — und sagte dann: „Die emotionale Ausstrahlung der Patientin hat sich deutlich verändert, mein Freund. Statt tiefer Besorgnis und Traurigkeit empfindet sie jetzt hauptsächlich riesige Erleichterung.“
Genau dasselbe Gefühl herrscht bei mir im Moment auch vor, dachte Conway bewegt. „Tja, das war's dann wohl“, sagte er laut. „Die Gefahr einer Verseuchung ist gebannt.“
Alle auf der Station Anwesenden starrten ihn ungläubig an und strahlten dabei so heftige und gemischte Gefühle aus, daß sich Prilicla, wie von einem emotionalen Wirbelsturm geschüttelt, an der Decke festklammern mußte.
Colonel Skemptons Gesicht war vom Bildschirm verschwunden, so daß ihn allein die kantigen Gesichtszüge von O'Mara anstarrten.
„Conway“, rief der Chefpsychologe barsch. „Erklären Sie mir das!“
Conway begann seine Erläuterungen mit der Bitte, die von der Behandlung der DBPK-Patientin angefertigte Aufzeichnung zu starten, und zwar von einem Punkt an, der ein paar Minuten vor der Wiedererlangung ihres vollen Bewußtseins lag. Während sie kurz darauf noch einmal sehen konnten, wie Thornnastor, die kelgianische OP-Schwester und der Melfaner Edanelt ein kleines Stück vom Untersuchungstisch zurückgetreten waren, um den Sitz des Luftschlauchs der Patientin zu überprüfen, erklärte Conway: „Der Grund, warum niemand an Bord der Rhabwar während des Rückflugs zum Hospital in Mitleidenschaft gezogen worden ist, liegt in der ununterbrochenen Bewußtlosigkeit der Patientin begründet. Ob die beiden behandelnden Ärzte und die ihnen assistierende OP-Schwester nun von ihren Artgenossen als gutaussehend betrachtet werden oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen, aber auf ein Wesen, das mit ihnen zum erstenmal im Leben konfrontiert wird — und dazu noch nicht einmal erwachsen ist —, könnten sie optisch durchaus ziemlich abstoßend oder gar furchterregend wirken. Unter diesen Umständen sind die Angst und die Kurzschlußreaktion der Patientin durchaus verständlich. Aber achten Sie jetzt besonders auf die Reaktion des DBPK-Körpers, als sich die Patientin ein paar Sekunden lang physisch bedroht fühlte.
Die Augen sind weit geöffnet, der Körper ist versteift und der Brustkorb stark ausgedehnt“, beschrieb er die jetzt auf dem Hauptbildschirm ablaufende Szene. „Eine ziemlich normale Reaktion, da werden Sie mir sicherlich zustimmen. Anfangs ein kurzer Moment der Lähmung, gefolgt von einer Hyperventilation, damit die Lunge entweder für einen Hilferuf oder die Aktivierung der Muskeln zur schnellen Flucht mit soviel Sauerstoff wie möglich versorgt ist. Zu diesem Zeitpunkt galt unsere ganze Aufmerksamkeit dem Vorfall mit den drei medizinischen Mitarbeitern und dem betroffenen Teammitglied. Deshalb haben wir gar nicht bemerkt, daß der Brustkorb der Patientin mehrere Minuten lang ausgedehnt geblieben ist — sie hat nämlich den Atem angehalten.“
Auf dem Bildschirm stürzte Thornnastor jetzt schwer zu Boden, die kelgianische Schwester brach zu einem schlaffen Haufen Fell zusammen, die Unterseite von Edanelts knöchernem Panzer krachte lautstark auf den Boden und auch das Mitglied des Transportteams sackte zusammen. Alle anderen Anwesenden ohne Schutzanzüge rannten zur Drucktragbahre und den Atemmasken. „Die Auswirkungen dieser vermeintlichen Viren waren plötzlich und dramatisch“, fuhr Conway fort. „Vollständiger oder partieller Atemstillstand, Kreislaufkollaps sowie deutliche Anzeichen eines negativen Einflusses auf die willkürliche und unwillkürliche Muskulatur. Allerdings war bei den Betroffenen kein Anstieg der Temperatur festzustellen, was eigentlich bei einer körperlichen Abwehrreaktion auf eine Infektion zu erwarten wäre. Wenn man eine Infektion also ausschließen konnte, dann war die DBPK-Patientin gar nicht so schutzlos, wie sie aussah…“
Wie Conway in seinen Erklärungen fortfuhr, mußten die DBPKs auf ihrem Weg zur dominanten Lebensform ihres Planeten irgendein Mittel zur eigenen Verteidigung entwickelt haben. Oder in anderen Worten: Jedes Wesen, das einen Schutzmechanismus braucht, hat auch einen.
Wahrscheinlich waren die erwachsenen DBPKs irgendwann geistig flexibel genug, um Schwierigkeiten zu vermeiden und ihre Kinder zu beschützen, solange sie noch klein und leicht zu tragen waren. Doch sobald die Kinder für den elterlichen Schutz zu groß geworden und für den eigenen noch zu unerfahren waren, entwickelten sie einen Verteidigungsmechanismus, der gegen alles wirkte, das lebte und atmete.
Bei der Bedrohung durch natürliche Feinde stießen die jungen DBPKs ein Gas aus, das die Wirkung des alten terrestrischen indianischen Pfeilgifts Curare mit der Schnelligkeit späterer Nervengase in sich vereinigte.
Daraufhin kam die Atmung des Feinds zum Stillstand, und er stellte keine Bedrohung mehr dar. Dieser Schutzmechanismus war allerdings ein zweischneidiges Schwert, weil er bei jedem Sauerstoffatmer zur Bewußtlosigkeit führen konnte, auch bei den DBPKs selbst. Da aber das den Gasausstoß auslösende Ereignis gleichzeitig den betreffenden DBPK veranlaßte, die Luft anzuhalten, ließ sich daraus schließen, daß die giftige Substanz eine komplexe und wenig stabile Molekularstruktur besitzen mußte, die schon wenige Augenblicke nach der Freisetzung zerfiel und ungefährlich wurde. Und zu diesem Zeitpunkt stellte der Feind natürlich schon längst keine Bedrohung mehr dar.