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»Wollen Sie nicht Ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?« fragte der Diener.

»Bitte«, sagte Karl und tat es.

»Es zieht hier so auf den Gängen,« sagte der Diener, »die Kerze löscht leicht aus, darum habe ich eine Laterne.«

»Ja, eine Laterne ist viel praktischer«, sagte Karl.

»Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft«, sagte der Diener und leuchte mit der Kerze Karls Anzug ab.

»Das habe ich ja gar nicht bemerkt!« rief Karl, und es tat ihm sehr leid, da es ein schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug zu reinigen, so gut es in der Eile ging; immer wieder drehte sich Karl vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und dort einen Fleck, den der Diener folgsam entfernte.

»Warum zieht es denn hier eigentlich so?« fragte Karl, als sie schon weitergingen.

»Es ist hier eben noch viel zu bauen«, sagte der Diener, »man hat zwar mit dem Umbau schon angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die Bauarbeiter, wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt sind da ein paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand vermauert, und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehen.«

»Da muß ich wohl lauter reden?« fragte Karl.

»Nein, Sie haben eine klare Stimme«, sagte der Diener. »Aber um auf diesen Bau zurückzukommen; besonders hier in der Nähe der Kapelle, die später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muß, ist die Zugluft gar nicht auszuhalten.«

»Die Brüstung, an der man in diesem Gang vorüberkommt, geht also in eine Kapelle hinaus?«

»Ja.«

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte Karl.

»Sie ist sehr sehenswert«, sagte der Diener, »wäre sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft.«

»Herr Mack?« fragte Karl, »ich dachte, das Haus gehöre Herrn Pollunder?«

»Allerdings«, sagte der Diener, »aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?«

»O ja«, sagte Karl. »Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?«

»Er ist der Bräutigam des Fräuleins«, sagte der Diener.

»Das wußte ich freilich nicht«, sagte Karl und blieb stehen.

»Setzt Sie das in solches Erstaunen?« fragte der Diener.

»Ich will es mir nur zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größten Fehler machen«, antwortete Karl.

»Es wundert mich nur, daß man Ihnen davon nichts gesagt hat«, sagte der Diener.

»Ja, wirklich«, sagte Karl beschämt.

»Wahrscheinlich dachte man, Sie wüßten es«, sagte der Diener, »es ist ja keine Neuigkeit. Hier sind wir übrigens«, und öffnete eine Tür, hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers führte.

Ehe Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei Stunden hörte, sagte der Diener: »Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abend hier auszukennen.«

»Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurückkehren,« sagte Karl und wußte nicht, warum er bei dieser Auskunft traurig wurde.

»Es wird nicht so arg sein«, sagte der Diener, ein wenig überlegen lächelnd, und klopfte ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte dahin erklärt, daß Karl beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Karl wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er, der Diener, der ihm besser gefiel als die anderen hiesigen Diener, könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen, und sagte deshalb: »Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich eine große Freundlichkeit von Ihnen, und ich nehme sie dankbar an. Jedenfalls werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich denke schon, daß mir Ihre Hilfe noch nötig sein wird.« »Gut«, sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau des Hauses zusammenhing. »Ich werde also hier warten. Die Kerze können Sie auch bei mir lassen«, sagte der Diener noch, als Karl mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte.

»Ich bin aber zerstreut«, sagte Karl und reichte die Kerze dem Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne daß man wußte, ob er es mit Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, daß er mit der Hand seinen Bart strich.

Karl öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie bestand aus einer einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke festgehalten wurde. Karl ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehen, merkte er noch, wie hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die Tür schloß.

»Verzeihen Sie, daß ich störe«, sagte er zu den beiden Herren, die ihn mit ihren großen, erstaunten Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er war aber nirgends zu sehen, der Eßtisch war völlig abgeräumt, vielleicht war der Hut unangenehmerweise irgendwie in die Küche fortgetragen worden.

»Wo haben Sie denn Klara gelassen?« fragte Herr Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuil und kehrte Karl seine ganze Front zu. Herr Green spielte den Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen.

»Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht mißverstehen dürfen«, sagte Karl, ging eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils. »Was soll denn das für eine Bitte sein?« fragte Herr Pollunder und sah Karl mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. »Sie ist natürlich schon erfüllt.« Und er legte den Arm um Karl und zog ihn zu sich zwischen seine Beine. Karl duldete das gerne, obwohl er sich im allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte. Aber das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger.

»Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?« fragte Herr Pollunder. »Scheint es Ihnen nicht auch, daß man auf dem Lande sozusagen befreit wird, wenn man aus der Stadt herauskommt? Im allgemeinen« – und ein nicht mißzuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Seitenblick ging auf Herrn Green –, »im allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend.«

›Er spricht‹, dachte Karl, ›als wüßte er nichts von dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel überall.‹

»Nun«, sagte Herr Pollunder, »die Bitte!«, und schüttelte Karl freundschaftlich, der stumm dastand.

»Ich bitte«, sagte Karl, und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht vermeiden, daß der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem Karl die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders aufgefaßt werden konnte, so gern verschwiegen hätte – »ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nach Hause.«

Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere um so schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge, an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. »Ich möchte um alles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkommen, denn wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin auch ich gerne. Nur heute kann ich nicht hierbleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach mißbraucht. Was für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, daß nichts in diesem Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben vielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel und mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, daß ich schon jetzt irgendwie mein Brot anständig – und vor allem anderen soll mich Gott bewahren – verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht, und das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man weiterstudiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus, und man hat zum Schluß eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium leider herausgerissen worden; manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und schließlich wäre auch alles, was ich wissen könnte, für Amerikaner noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hie und da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und vielleicht auch Handelswissenschaften lernt; als ich aus der Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals nicht ahnen, welches Unglück über mich kommen wird und wie ich das Englische brauchen werde, und zweitens mußte ich für das Gymnasium viel lernen, so daß ich für andere Beschäftigungen nicht besonders viel Zeit hatte. – Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben, daß ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und darum muß ich, um den Fehler, den ich ihm gegenüber begangen habe, nur halbwegs wiedergutzumachen, sofort nach Hause gehen.«