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Rechts von ihm ein dicker Orthodoxer. Der bückte sich gerade nach einer Tasche, holte sein Samtetui hervor, in dem Gebetsbuch und Gebetsriemen aufbewahrt waren.

Warum mußte gerade er neben diesem Wiedergänger sitzen, dachte Ethan, neben einem Wiederkäuer der Schrift, der ihn mit seinen Schläfenlocken, dem wolligen Haar und dem langen Bart an ein Schaf erinnerte. So einer wollte nichts als beten, würde sich während des ganzen Fluges hin- und herwälzen. Wie sollte er da arbeiten? Vor einer Woche, auf dem Weg von Wien nach Tel Aviv, war er auch an der Seite eines Frommen gesessen, ohne daß ihn das Zeremoniell gestört hätte. Im Gegenteil. Beide waren sie in ihrer je eigenen Welt versunken gewesen. Was unterschied diesen Gläubigen von dem anderen? Damals hatte er auf das jüdische Original geschaut, hatte ein Auge auf ihn geworfen, bereit, ihn gegen jeden scheelen Blick zu verteidigen, jedem entgegenzutreten, der über den schwarzen Kaftan und den breitkrempigen Hut die Nase rümpfen würde. Jetzt, in der Gegenrichtung, von Ost nach West, bemerkte er den muffigen, süßlichen Geruch dieses Mannes, der zu warm angezogen war, und der Mief erinnerte ihn an den Friedhof, an den Rabbiner und den Kantor, die er an Dovs Grab gesehen hatte, an die Gebete und Klagelieder, die sie angestimmt hatten. Nun war er es, der scheel auf den Betenden blickte, der beobachtete, wie er sich die speckigen Lederriemen um die Linke und um den Kopf band. Das Aufblättern des Buches, das Gebrummel, der Versuch, vor- und zurück- zu wippen, sich zu wiegen. Aber da war kein Platz. Der Körper schien im Fett eingeschlossen und erinnerte Ethan an eine riesige Raupe, die sich nicht entpuppen, nicht zum Falter entwickeln wollte, solange der Messias nicht erschienen war.

Die linke Armstütze von der Frau und die rechte vom Gläubigen okkupiert. Rosen kauerte zusammengepreßt, ein Vierjähriger zwischen Mutter und Vater. Das Signal ertönte, das Anschnallzeichen erlosch, die Schnappverschlüsse der Gurte klickten, und wie auf Befehl stand ein Teil der Passagiere auf. Er kannte dieses Ritual seines Volkes, als folgten sie einem Gebot des Unaussprechlichen, einem Gesetz ihrer Natur, dem Instinkt einer ewigen Unrast, und schon bat der Fromme neben ihm hinauszudürfen, weshalb auch Ethan, dann die ältere Dame aufstehen mußten, um ihn vorbeizulassen. Der Religiöse stellte sich an den Paravent, der die Business Class vom Rest der Maschine trennte, umschloß mit einer Hand sein Kompendium, hielt sich mit der anderen an der Kabinenverkleidung fest und begann zu schaukeln, als wolle er dem Flugzeug mehr Schwung verleihen, um schneller ans Ziel zu gelangen. Die Gebetskapsel auf seinem Kopf verstärkte den ungestümen Eindruck, wirkte wie ein Horn, das seinem Schädel entsprang, ein Überbleibsel aus früheren Zeiten. Ethan kannte die jüdischen Mystiker, hatte als Soziologe in verschiedenen Ländern Chassiden beobachtet, aber noch nie war er einem Mann begegnet, der sich mit solcher Inbrunst in die Schrift versenkte. Es schien, als rüttle er an dieser Welt, um hinter ihre Fassade zu kommen.

Ethan griff nach seinem Laptop und schaltete ihn ein, dann öffnete er die Dateifassung der Dissertation und begann zu lesen. Eine Untersuchung über die Darstellung von Migranten im österreichischen Film.

Sie kenne ihn, sagte mit einemmal die Dame zu seiner Linken, sie kenne ihn gut. Er sei doch der kleine Dani, so habe sie ihn früher gerufen, als Bub, und Ethan stimmte zu, denn viele hatten die mütterliche Koseformel Ethanni zu Danni verkürzt, weil das im Deutschen eingängiger klang. Sie sei mit seinen Eltern eng befreundet gewesen. Als er ihr versicherte, von Anfang an geahnt zu haben, ihr bereits begegnet zu sein, winkte sie ab:»Ersparen Sie uns das. «Sie griff in ihre Handtasche und holte einen Tablettenspender hervor, in dem die Kügelchen, Dragees und Kapseln in einzelne Fächer für je einen Wochentag aufgeteilt waren. Das werde ihr Frühstück. Sie zog ein seidenweißes Taschentuch hervor, breitete es aus und arrangierte die Medikamente, als seien es Steine in einem Brettspiel. Ob sie an einer Krankheit leide?» Nein. An mehreren. «Sie sah sich um. Nicht einmal im Flugzeug, meinte sie, könne ihr gemeinsamer Stamm, diese masochistische Internationale, einen Moment stillsitzen. Selbst in den Lüften seien sie ein Nomadenvolk. Die Männer erfasse, vielleicht seit der Beschneidung, eine Unruhe, als litten sie unter einem Jucken in den Beinen, ein Fluchtreflex, der im Schtetl eventuell nützlich gewesen sein mochte.

In der Reihe vor ihm wienerische Laute. Wortfetzen drangen durch das Vibrieren der Maschine. Einer berichtete vom Tauchen im Roten Meer. Rochen, Haifisch, Muränen. Der andere, ein Pilger im Falsett, über Via dolorosa, Grabeskirche, Kapernaum.

Der Orthodoxe wippte vor und zurück, federte in den Knien und begann mit einem Headbanging, als gehöre er einer Hard-Rock-Band an, auch wenn seine herumhüpfenden Schläfenlocken eher an die Dreadlocks der Rastafaris erinnerten. Und dann sang er wie einer, der über Kopfhörer Musik hört und, ohne es zu merken, laut mitträllert. Die Passagiere um ihn herum glotzten ihn an. Hätte ein Liebespaar es hier vor aller Augen getrieben, wäre ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit gezollt worden. Eine Flugbegleiterin sprach ihn an, er solle nicht den Durchgang zur Business Class blockieren. Er wolle nur sein Gebet abschließen. Er hielt sich an der Gardine fest, als wäre sie der Vorhang eines Toraschreins, als stünde er vor dem Aron Hakodesch. Er müsse hier beten.

Eine zweite Stewardeß näherte sich von hinten mit einem Trolley. Er möge sich doch endlich setzen, rief Ethans Nachbarin. Wieso sie sich denn einmische, fragte der Orthodoxe. Ob sie heute schon gebetet habe? Und ob der da, er zeigte auf Ethan, bereits seinen Pflichten nachgekommen sei und die Tefillin angelegt habe. Sei er etwa kein Jude?

Er sei es durchaus und um nichts weniger als einer, der rabenschwarze Kleider und eine polnische Pelzmütze trage, sagte Ethan Rosen, und er habe die Gebetsriemen an diesem Morgen nicht umgebunden, ebensowenig wie am gestrigen, und er werde sich auch in den nächsten Tagen keine umschnallen. Er stehe nicht auf Leder.

Ob die nicht aufhören könnten, fragte hierauf der Taucher aus der vorderen Reihe, er wolle jetzt in Ruhe sein Bier trinken. Sein Nachbar, der Pilger, nickte. Der Fromme beachtete die zwei gar nicht, hob statt dessen die Hand, und die beiden Wiener und die Flugbegleiterinnen verstummten. Er sah zu Ethan Rosen, als hätte er das ganze Ritual nur begonnen, um ihn zu provozieren, als wäre es seit Anbeginn der Zeiten nur darum gegangen, diese jüdische Seele zu retten.»Was aber«, sprach er,»wenn jetzt hier, aus der Business Class, unser Vater Abraham hervorkommt und dich fragt: Sag, hast du heute früh schon Tefillin gelegt?«

Die Flugbegleiterin hinter ihm sagte:»Das zählt nicht, daß Ihr Herr Vater in der Business Class sitzt. Sie haben ein billigeres Ticket? Dann nehmen Sie bitte Platz.«

Unmittelbar vor der Abtrennung erhob sich ein Mann mit Glatze. Sie könnten tauschen. Er habe keine Lust mehr, hier zu sitzen, vor seiner Nase ein wippender Hintern. Der Rabbiner könne da vorn alleine swingen oder tun, was er wolle.

Der Mann setzte sich zu Ethan. Ein Israeli Anfang Dreißig, Jeans, ein wolfsgraues Sakko und darunter ein weißes T-Shirt. Seinen blankrasierten Kopf zierte im Nacken ein Strichcode. An einem Handgelenk trug er einen goldenen Armreifen und an dem anderen eine Sportuhr aus Edelstahl mit großem Zifferblatt und drei kleineren Zeigerwerken. Der bringe noch das ganze Flugzeug zum Absturz, wenn er so schaukle, sagte er auf englisch zu Ethan. Und obszön sehe das aus, ein Gerammel, als wolle der Kerl sich an dem ganzen Flieger vergehen. Dieses Geschojkel gehe ihm schon in Israel auf den Geist, das halbe Land wippe hin und her, als wäre der ganze Staat eine Heilanstalt, und jene Zwangsneurotiker des Glaubens, jene Fetischisten der Stammesrituale benähmen sich, als litten sie an Hospitalismus.

Ethan tat, als höre er nicht, und sah nur auf seinen Bildschirm. Die Flugbegleiterin bot Getränke an.»Stilles Wasser«, sagte die ältere Dame und steckte die erste Tablette, eine kleine himbeerrote Kugel, in den Mund. Ethan bestellte Tomatensaft. Sein Nachbar wollte ein Bier, rückte Flasche und Glas dicht an den Laptop. Ob Ethan mit dem Gerät zufrieden sei?