Der Chefarzt beruhigte Felix:»Das sind nur harmlose Nebenwirkungen. Andere werden von Zwangsvorstellungen heimgesucht. Wir können froh sein, daß nichts Schlimmeres passiert ist. Manche Patienten stürzen nach so einem Mißgeschick in eine Psychose.«
Dina tat überrascht.»Hätte ich dir gar nicht zugetraut. «Und dann ein wenig spitzer:»Hast du dabei etwas Neues dazugelernt?«
Felix wollte nicht mehr im Krankenhaus bleiben. Er bekam eine Gehhilfe, die er zu Hause kaum verwendete, weil er zu stolz dafür war. Als er zum ersten Mal wieder auf die Straße wollte, stürzte er. Dina schrie, ein Nachbar kam gerannt und versuchte, ihm aufzuhelfen, der Portier des Hochhauses, in dem sie wohnten, wollte den Krankenwagen rufen, doch Felix wehrte jede Hilfe ab. Langsam stand er wieder auf, schaute sich um und nickte. Seht her, das ist Felix Rosen, und er steht auf eigenen Beinen.
Sie besuchten die Eltern täglich und brachten Essen mit. Die ganze Wohnung war vollgeräumt. In der Ecke stand ein kleines Biedermeiertischchen mit edlen Intarsien, die niemand sah, weil darauf ein Tuch mit feinster Brüsseler Spitze lag, das wiederum unter einer in allen Farben schillernden Glasvase, einer flammenden Kreation im Popstil der Siebziger, verborgen war, aus der ein Blumenstrauß aus knallgelben Gerbera und weißen Rosen sproß. Die Garderobe war Pariser Art deco, davor Plastiksessel, daneben ein Bauernschrank. Die Räume ähnelten einem Depot, in dem verschiedene Sammlungen durcheinandergeraten sein mußten. Hier residierten die Rosens, hier hatten sie sich nach Jahrzehnten globaler Geschäftigkeit niedergelassen, eingezwängt in ihre Erinnerungen. An den Wänden hingen Werke frühzionistischer Künstler neben den Bildern europäischer Maler des neunzehnten Jahrhunderts.
Die Fenster waren dicht verschlossen. Die Hitze blieb ausgesperrt. In jedem Zimmer surrte eine Klimaanlage. Kältestarre. Sibirischer Frost. Ethan hatte Noa gewarnt. Sie hatten Jacken mitgebracht, hatten sie durch die Gluthitze geschleppt, um sie sich nun umzuhängen.
Bei einem ihrer Besuche sagte Felix zu Ethan:»Zwischen uns ist alles, wie es war. Du bist schließlich keine Krämerseele. Er nimmt dir nichts weg. Ginge es ums Geld, ließe sich alles leicht regeln. Wir könnten Vereinbarungen treffen, die Erbschaft sichern. Ein Testament aufsetzen. Aber darüber hat er kein Wort verloren. Und du hast auch noch nie davon geredet. - Merkwürdig eigentlich.«
Auch die Mutter hatte Rudi ins Herz geschlossen, so fest, daß es Ethan beim bloßen Anblick den Brustkorb zusammenschnürte. Rudi wiederum genoß die Überschwenglichkeit der Eltern, vor der Ethan von jeher geflüchtet war. Rudi fühlte sich geborgen. Angenommen.
Ethan hätte zufrieden sein können. Da war einer, der sehnte sich nach dem, womit er verschont werden wollte.
Doch er freute sich nicht darüber. Er fühlte sich unter ständiger Beobachtung. Jede seiner Regungen wurde, so schien ihm, registriert, und das engte ihn erneut ein. Er begann, sich selbst zu belauern, und der Gedanke, es werde von ihm verlangt, offen auf Rudi zuzugehen, machte ihn nur noch verschlossener.»Was stört dich so, Tuschtusch? Ich bin dein Vater. Ich sehe es dir an. Der Ehebruch ist es doch nicht, oder? Hätte ich zu Tante Rachel, zu Onkel Jossef und Jaffa etwa sagen sollen, meine lieben Anverwandten, das da, dieser fremde Gast hier, ist der späte Auswuchs eines meiner verirrten Samenergüsse und einer wild gewordenen Eizelle? Nu, Ethan, wäre dir das lieber gewesen? Hätte dir doch auch nicht gefallen. Ich kenne dich.«
Dina war froh, Felix wieder bei sich zu haben.»Im Krankenhaus läßt er sich gehen. Zu Hause werden die Halluzinationen verschwinden. Nicht bei Frida. Die überschwemmt ihn mit ihrer Fürsorge. Kein Wunder, daß sie ihm eine so hohe Dosis verabreichte, als er darum bat. Dort wird er zum Pflegefall. Hier ist er auch versorgt, aber bleibt gefordert. Schlimm genug, daß er zweimal in der Woche zur Dialyse ins Spital muß. In der Klinik wird er nicht gesund. Er braucht seine gewohnte Umgebung und seine Familie. Sein Stammlokal. Meine Bridgerunde. Außerdem kann er hier Rudi kennenlernen.«
Sie sagte:»Wußtest du das nicht? Rudi zieht bei uns ein, in dein ehemaliges Zimmer. Ist es für dich schlimm, daß er in deinem Bett schläft? Soll er wieder gehen?«Sie sah ihn traurig an, die Stirn in Falten, die Wangen eingefallen, als fürchte sie, er könnte die falsche Antwort geben. Ethan schüttelte den Kopf.
Rudi sagte:»Ich kann, wenn du willst, auch im Hotel wohnen. Es ist keine Frage des Geldes.«
Rudi konnte nicht sagen, wonach er in Ethans Hochbett, zwischen den Schallplatten und Büchern des Teenagers suchte.»Eine Silbe von dir, und ich bin weg«, meinte er. Ethan schüttelte wieder den Kopf.
Noa sagte:»Bist du eifersüchtig, weil er in deinem Kinderzimmer schläft? Willst du mit Rudi tauschen? Du gehst in dein altes Bett, und er soll zu mir unter die Decke? Nur zu. Sag, was du auf dem Herzen hast, Johann Rossauer.«
Niemand verstand, weshalb er sich nicht über seinen neuen Bruder freute. Ihm wiederum schmeckte die ganze Süßlichkeit nicht, sie war ihm zu klebrig und üppig. Am Wochenende lud Dina zum gemeinsamen Essen. Sie wolle alle Kinder beisammenhaben, Ethan und Rudi, aber auch Noa.
«Auf die Familie!«Felix stieß mit ihnen an.
Je nach Thema wurde zwischen Hebräisch und Deutsch gewechselt. Ein Slalom der Sprachen. Felix begann in Hebräisch über Osterreich zu sprechen, glitt dann ins Wienerische, um von der Oper zu schwärmen, und Rudi nahm den Faden auf. Sie fanden schnell zu den gemeinsamen Vorlieben. Beide nannten ihre Lieblingsarie, und natürlich, ja, natürlich, hieß es sogleich, war es dieselbe. Felix sagte:»Casta Diva.«
Und Rudi jauchzte:»Die Norma von Bellini! Aber keine kann es so wie sie, wie die eine.«
«Natürlich. Sie war die Beste und wird es immer bleiben. «Hier saßen einander zwei Getreue, zwei Jünger gegenüber.
Es war nicht Bosheit, nicht Widerwillen, sondern eher die Zuneigung für den Vater, die Ethan mitspielen ließ:»Aber gibt es nicht auch andere Sängerinnen, die zumindest ebensogut singen? Die Anderson, die Ross, die Gruberovä… War es nicht einfach ihre Zeit, ihr Geschick, ihre Präsenz? Ihre Heirat mit Onassis?«
«So ein Blödsinn! Eine Gemeinheit ist das. Sie war lange vor dieser Ehe die Primadonna, die Diva assoluta. Sie hat diesen Gesang überhaupt erst erfunden. Sie hat den Weg für die anderen geöffnet. «Ethan fing Noas Blick auf. Er meinte, eine Mischung aus Tadel und Mitleid zu erkennen, und unwillkürlich schaute er zu Boden. Niemand glaubte, es gehe hier nur um Musik.
Rudi lächelte:»Es ist eben eine Frage des Geschmacks«, aber die Art, wie er das sagte, der Anflug von Spott in seiner Stimme, widersprach dem, was er sagte.
Nun jagten Felix und Rudi die Themen durch, hakten ab, was ihnen am wichtigsten war, und siehe da, ob Dirigent oder Solist, ob Schauspieler oder Regisseur, es fielen dieselben Namen. Einigkeit auch über jene, die von ihnen verachtet wurden. Als Kinder hatten beide, Felix und Rudi, Geige gelernt. Beide mochten keine Katzen. Sie sprachen lange über die Vorzüge verschiedener Hunderassen, über ihre Lieblingsspeisen, bis Rudi plötzlich erzählte, seine geheime Leidenschaft sei Rhabarber.
«Nein! Rhabarber«, schrie Dina.
«Rhabarber«, brüllte Felix.»Ich könnte morden für Rhabarber!«
«Rhabarber«, schüttelte sich Noa,»schrecklich!«
«Ethan und ich wollten nie Rhabarber«, sagte Dina,»aber Felix bestand auf Rhabarberkuchen, Rhabarberkompott, Rhabarberbiskuit. Und vor allem Rhabarbergries.«
«Gries oder Rhabarber«, sagte Ethan,»ich weiß nicht, was schlimmer ist.«
«Die Leute hassen es, weil es sie an die Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit erinnert«, rief Felix,»aber ich liebe beides.«