Rudi sekundierte:»Ich auch. «Und dann:»Ich kann doch nichts dafür. Es ist ja vererbt!«
Rabbi Berkowitsch saß in sich versunken da. Ein kleiner Mann, dessen Körper filigraner nicht hätte sein können. Sein schlohweißer Bart lief über der Brust zu einem langgezogenen Spitz zusammen und endete unter dem Gürtel in einem Zipfel Haarsträhnen. Der Rabbiner hatte auf diesem Cafe im Krankenhaus bestanden. An der Wand ein Zertifikat, das mit rabbinischer Unterschrift bescheinigte, hier würden ausschließlich streng koschere Speisen und Getränke serviert. Er griff zur Tasse, schlürfte den Milchschaum.»Herr Professor Rosen, glauben Sie an die Bestimmung? War es Zufall, als Sie damals im Flugzeug neben dem frommen Juden zu sitzen kamen? Zufall, daß ich von Ihnen hörte?«Ethan sah sich einem Obskuranten gegenüber. Das unverdrossene Lächeln. Die Gewißheit, mit der er sprach. Das war kein Glaube, der den Zweifel überwunden hatte, sondern ein Eifer, der erst gar keinen zuließ. Dieser Mensch schien unberührt vom Alltag um ihn herum und tat, als wäre er ganz im reinen mit sich selbst. Dabei konnte er nicht einmal seinen taubengrauen Seidenkaftan sauberhalten, den er gerade mit Kaffee bekleckerte. Aber diese Nachlässigkeit gegenüber Äußerlichkeiten schien geradezu kultiviert, als wäre es kein Zeichen von Schlampigkeit, sondern ein Merkmal besonderen Geistes. Und gerade weil Rabbi Berkowitsch keinerlei Wert auf sein Aussehen legte, überzeugte er viele Menschen davon, nur auf Wesentliches, auf Transzendentes konzentriert zu sein. Er galt unter vielen Frommen als eine Leuchte rabbinischer Weisheit, vor allem deshalb, weil das meiste, was er von sich gab, unverständlich klang. Überdies war er ein wahrer Kenner der talmudischen Schriften. Ein Gelehrter, darüber herrschte Einigkeit.
Der Rabbiner sagte:»Der Zufall ist nur das Fällige, das uns zufällt. Die Schrift ist da, wir sind es, die sie entziffern müssen, und es steht geschrieben, einer wird kommen und wird erfüllen, was verkündet wurde. «Rabbi Berkowitsch hatte zunächst Ivrit gesprochen, doch nun rezitierte er im altertümlichen Hebräisch die Sprüche, die vom Volke kündeten, das im Dunkel lebe, dann aber ein Licht sehen werde, das über jene, die in der Finsternis wohnten, hell leuchten solle. Und lapidar fuhr er fort:»Hören Sie? Genau festgehalten ist, was zu geschehen hat. Es ist verbucht, er wird auf dem Throne Davids sitzen, und seine Herrschaft wird Frieden bringen. «Wieder sagte er die heiligen Verse auf, erzählte vom Wolf, der beim Lamm wohnen, vom Panther, der beim Böcklein liegen werde, während Kalb und Löwe, von einem kleinen Knaben behütet, zusammen weiden. Die Kuh werde bei der Bärin liegen, der Löwe mit dem Rind gemeinsam Stroh fressen und der Säugling vor der Höhle der Schlange spielen, und als der Alte zur Strophe über das Kind gekommen war, das seine Hand in das Loch der Natter stecke, war Ethan vom Enthusiasmus dieses Religiösen angesteckt, obwohl er kein einziges Wort glaubte, das der von sich gab.
Es sei von Beginn an so bestimmt gewesen, einander zu treffen. Er, Rabbi Jeschajahu Berkowitsch, sei auserwählt gewesen, ihn aufzustöbern, so wie Ethan nun berufen sei, mitzuhelfen, damit der Eine, der Gesalbte, endlich erscheinen könne.
«Von welchem Auserwählten reden Sie jetzt eigentlich? Vom Messias, von mir oder von sich?«
«Lachen Sie nicht, Herr Professor Rosen.«
«Ich lache nicht. Ich kann es bloß nicht glauben.«
«Darum geht es nicht.«
Ethan horchte auf. Seit wann kam es für diese Geistlichen nicht darauf an, Gott zu ehren.»Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, Rabbi, aber…«
«Keine Angst. Sie können mir nicht zu nahe treten.«
«Ich bezweifle, daß es Ihnen nicht um meine Frömmigkeit und meine Gesetzestreue geht.«
Der Rabbiner nahm wieder einen Schluck von seinem Kaffee.»Es ist aber so.«
«Bei allem Respekt, Rabbi…«
Der sah zur Decke. Dann sein mürrisches Lächeln.»Respekt? Ersparen Sie uns das. Ich weiß, was Sie von mir halten. Ich kenne Sie in- und auswendig, Professor Rosen. Sie sehen in mir ein Relikt, ein Fossil aus der Kreidezeit. Ich habe über Sie recherchiert, Ihre Artikel gelesen. Meinen Sie, ich merke nicht, was in Ihnen vorgeht? Wie Sie mich anschauen? Ich stinke Ihnen. Der Fromme im Kaftan bringt Sie zum Schwitzen. So ist es. Wenn ich atme, raubt es Ihnen die Luft. Mein Aufzug engt Sie ein. Meine Kippa bedrückt Ihr Haupt, und meine Schläfenlocken baumeln Ihnen vor den Augen. Nein, ich behaupte nicht, daß Sie unter jüdischem Selbsthaß leiden. - Erstens leidet unter dem Haß der Verhaßte und nicht der Hassende. Zweitens verachten Sie mich nicht mehr als einen Mönch in seiner wollenen Kutte. Drittens stören Sie unsere dicken Gewänder nicht im kalten Norden, sondern bloß in Eretz Israel. Ihre Abneigung, Ihre — wenn ich so sagen darf — Allergie tritt nur in bestimmten Gegenden auf. Viertens weiß ich, daß Sie jeden Deutschen in die Hölle jagen würden, der es wagte, gegen mich das Wort zu erheben. Aber wissen Sie was? Ich brauche Ihre Verteidigung nicht, und Ihren Respekt und Ihre Toleranz können Sie sich auch sonstwohin stecken. - Sie akzeptieren mich? Soll sein. Sie bestaunen meine Glaubenskraft? Sie bewundern mein Gedächtnis? Meine Gelehrsamkeit? Kann sein. Das laß ich mir einreden. Aber Respekt? Von Ihnen? Wem wollen Sie das erzählen? Mir? — Sie denken, es geht mir um Ihren Glauben? Bin ich ein katholischer Missionar? Ich will nur wissen, was einer wie Sie macht. Warum er das macht oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Mich interessiert nicht, weshalb, sondern nur, was. Was sind Sie bereit zu tun.«
«Was kann ich denn machen, damit der Messias erscheint? Am Samstag kein Licht einschalten? Am Morgen Lederriemen umbinden? Auf Schweinefleisch verzichten? Soll ich beten, damit es schneller geht?«Ethan beugte sich vor.»Bedenken Sie doch, Rav: Sie sollten Leuten wie mir, die keine Tefillin legen und den Schabbath nicht halten, dankbar sein. Dankbar! Wegen uns kommt das Ende aller Zeiten nicht. Sie können weiterhin beten und fasten. Sobald der Messias da ist, hört das ganze Larifari auf, und zu allem Überfluß werden alle unsere Verwandten von den Toten auferstehen. Nu, ich frag Sie, Rabbi, wer braucht das? Faßt Ihre Wohnung so viele Besucher?«
Der Rabbiner lächelte spitz:»Es wird genug Platz sein für alle. Auch für Juden und Araber in Eretz Israel. Friede wird herrschen, Herr Professor. Der Mensch wird dem Menschen kein Unmensch mehr sein. Bald schon.«
Er trank die Tasse leer und rief die Kellnerin, bestellte eine Cremetorte, sah Ethan tief in die Augen und flüsterte:»Es gibt Geheimnisse hinter den Buchstaben und zwischen den Zeilen.«
Ethan kannte die Zahlenspiele der Mystiker und ihre kabbalistischen Taschenspielertricks zur Genüge. Er hörte dem Frommen gerne zu, wie er auch einem afrikanischen Wunderheiler, einem Tiroler Wünschelrutengänger oder einem walisischen Spiritisten gelauscht hätte. Ihn konnten solche Gestalten begeistern. Sie waren Studienobjekte. An ihre Magie glaubte er nicht, aber er zweifelte nicht an den unglaublichen Kräften, über die sie verfügten, diese Meister der Manipulation und Suggestion. Sie waren Illusionisten.
«Na, Rabbi, wollen Sie mir erzählen, Sie haben schon errechnet, wann der Messias endlich auf die Welt kommt?«Ethan schmunzelte und legte den Kopf schief. Das wollte er nun bis zuletzt auskosten.
Der Rabbiner nahm einen Bissen von seiner Torte.»Halten Sie sich nicht zurück, Herr Professor. Machen Sie sich ruhig lustig über mich. Ja, stellen Sie sich vor, ich kann es und konnte beweisen, daß in den heiligen Büchern verborgen steht, wann er geboren werden muß. Meine Methode wurde von mehreren Autoritäten anerkannt, bis zum Moment, da ich erklärte, was ich herausgefunden hatte.«
«Wieso?«
Der Rabbiner äffte ihn nach:»Wieso?«Er schüttelte den Kopf.»Jetzt beginnt es Sie zu interessieren, was ich entdeckte, nicht wahr?«Er wisperte:»Ich werde Ihnen, Professor Rosen, den Grund verraten. Ich, Jeschajahu Berkowitsch, habe mit Hilfe meines rabbinisch-talmudischen Wissens entziffert, daß der Meschiach bereits vor langer Zeit gezeugt worden ist.«