Ethan zuckte mit den Schultern:»Das behaupten die Christen auch.«
«Das wurde mir von meinen ehrenwerten Kollegen auch vorgehalten. Und es wurde mir vorgeworfen, ein Ketzer zu sein, ein Schabtai Zwi, ein Abtrünniger. Aber ich behaupte gar nicht, daß der eine, der es sein wird, bereits zur Welt kam, denn noch ist der Löwe dem Lamm kein Freund und der Mensch dem Menschen ein Feind.«
Ethan verzog das Gesicht, als habe er in faules Obst gebissen.»Er wurde gezeugt, aber nicht geboren? Das klingt nach metaphysischer Obstipation! Was kann da helfen? Etwa, daß ich Tefillin lege?«
«Ich weiß nicht, was Sie die ganze Zeit mit den Tefillin wollen. Darum geht es nicht. Das haben wir geklärt. «Rabbi Berkowitsch nahm einen weiteren Bissen von der Torte, nicht ohne einiges von der Sahne auf sein Hemd tropfen zu lassen, und redete weiter:»Was aber, wenn der Meschiach tatsächlich bereits vor Jahrzehnten gezeugt, doch nie geboren wurde?«
«Was soll das heißen?«
«Hören Sie mir zu, Herr Professor. Meine Aufzeichnungen ergaben nicht bloß, daß der Gesalbte schon gezeugt wurde — was meine geschätzten Kollegen genug schockierte. Ich konnte aufgrund der Verknüpfung aller offenen und verschlüsselten Verkündungen sogar bestimmen, wann, wo und von wem. Ja, selbst die Nacht, in der die Frau und der Mann einander erkannt hatten, in einem galizischen Schtetl. All das ließ sich eindeutig feststellen.«
«Eindeutig?«
«Zugegeben: Alles eine Frage der Interpretation, Herr Professor! Soll sein. Aber eben eine mögliche Lesart und zudem die einzige, die von den Gelehrten nachvollzogen werden kann. Doch sie weigern sich, die Konsequenzen zu denken. Sie fürchten das Ergebnis! Die Schlußfolgerung! Das Urteil!«Die letzten Worte hatte der Rabbiner nicht mehr geflüstert, sondern gekreischt, und die Kellnerin schaute zu ihrem Tisch herüber. Er aber achtete nicht darauf. Ethan sah diesen Mann vor sich, dessen Durchdrungenheit wie von einer anderen Welt war. Mit solchem Charisma mochten die Religionsgründer früherer Jahrhunderte ausgestattet gewesen sein. Aber die biblischen Zeiten waren vorbei. Galt einer, der so erfüllt war vom Glauben, heute nicht bestenfalls als Fanatiker oder gar als psychotischer Fall?
Der Rabbiner sprach weiter, fiebrig. Er ballte dabei die Faust.»Was, frage ich, wenn der Meschiach gezeugt wurde, von einem Juden und einer Jüdin im Polen der frühen vierziger Jahre, von einer Frau und einem Mann, deren Abstammung und Herkunft, deren Leben und Leidensweg ich nachzuzeichnen imstande war. Was, wenn alle Vorhersagungen der Schrift sich bewahrheitet haben. Ich kann Ihnen, Herr Professor«, er schlug im Takt seiner Worte auf den Tisch,»die Beweise vorlegen.«
Aus einer Tasche kramte er ein Konvolut von Dokumenten, Notizen und Karten hervor.»Ich habe historische Fakten, Stammbäume, Gemeindebücher, Gerichtsurteile verglichen mit den verborgenen Hinweisen aus den verschiedenen Schriften. Ich habe erkennen müssen, wie alles zueinanderpaßt. Es ist alles verzeichnet. Wir sind gezählt und gewogen, Herr Professor, und wir, ob wir auf Leder stehen oder nicht, wir sind alle, allesamt, für zu leicht befunden worden. Nichts sind wir und nichtig. Es ist verbucht, Herr Professor. Millionenfaches Nichts. Verstehen Sie?«
Zum ersten Mal in diesem Gespräch spürte Ethan gegen seine eigene Überzeugung, daß hinter den Worten des Rabbiners ein bezwingender Gedanke stecken mochte. Eine tiefere Wahrheit. Er begriff noch nicht, worauf der Rabbiner hinauswollte, aber er fühlte, welche Verzweiflung diesen frommen Menschen zu seinen Studien und Nachforschungen getrieben haben mußte.
«Der Meschiach«, wisperte er und sah sich um,»es ist bezeugt, er war bereits gezeugt. Noch wußte niemand von ihm. Noch hatte niemand ihn gesehen. Aber unter der Brust einer Frau wuchs ein Embryo heran. Ich kann die Zeichen entschlüsseln, kann jeden Buchstaben zur Zahl entziffern, kann die Methoden unserer Gerechten anwenden und damit sogar den Geburtstermin festlegen, an dem das Kind das Licht der Welt hätte erblicken sollen. Jener Nachkomme Davids und Salomons aus dem Hause Juda, der uns endlich den Sinn allen Seins eröffnet hätte. Aber es kam nicht dazu. Da ist kein Sinn mehr, sondern bloß noch Unsinn, nein, Widersinn geblieben. Dieses Wesen wurde nicht. Seine Mutter konnte ihm kein Leben schenken, weil sie ihres schon verloren hatte, weil es ihr geraubt, weil sie erschossen worden war. Der Vater sollte sein Kind nie in die Arme nehmen, weil ihn die Mörder vergast hatten. Im Winter des Jahres 1942 war das Schtetl zusammengetrieben worden, und alle wurden innerhalb weniger Tage ermordet. Was soll ich sagen? Wozu erzählen, was sich an Abertausenden Plätzen genauso zugetragen hat. Sie sperrten Frauen, Kinder und Männer in eine Scheune und zündeten sie an. Die anderen durften draußen zuschauen, wie die Verwandten um ihr Leben schrien, wie der Rauch aus dem Inneren stieg, wie das Feuer hochschlug, wie sie den Flammen zu entkommen versuchten, wie sich einige wenige aus den Fenstern stürzten und von der SS totgeschlagen wurden. Wie die meisten in den Wald getrieben wurden, um jene Gruben auszuheben, in die sie bald danach hineingeschossen wurden. Was soll ich Ihnen erzählen, Herr Professor?… Keines meiner Worte reicht aus. Meine Sprache versagt. Und Sie werden es ohnehin nie verstehen. Was soll ich Ihnen erklären? Wieso der Rest ins Lager verschleppt wurde?«
Ethan nickte, dann fragte er leise:»Sie waren dort, nicht wahr, Rabbi Berkowitsch?«
Der Rabbiner erbleichte, und dann flüsterte er:»Ich kann Ihnen sagen, Herr Professor, es hat sich getan.«
Ethan wußte nicht, wohin schauen, da fuhr der Alte fort:»Ich war andernorts. Im Wald. «Er räusperte sich.»Wir sind alle Überlebende, Herr Professor. Keiner hätte übrigbleiben sollen. Kann vorherbestimmt sein, was geschah? Fragen Sie sich manchmal, Herr Professor, wie Religiöse sich erklären, was uns widerfuhr?«
Ethan nickte.»Ich kenne die Theorien. Manche meinen, der Holocaust unterscheide sich nicht von anderen Katastrophen, die das Judentum trafen.«
«Blödsinn! Die geplante Ausrottung eines Volkes, die industrielle Produktion von Leichen war noch nie da. Nie!«
«Dann, Rabbi, gibt es noch die These, Gott hätte die Juden für ihre Sünden bestraft.«
«Und die Million ermordeter Kinder? Sogar der Satan selbst könnte keine Sünde erfinden, die von diesen Kleinen gesühnt werden müßte. Nebbich. Es gibt keine Erklärung. Am dümmsten ist die Theorie, der Massenmord sei notwendig gewesen, um Israel zu gründen. Wieso sollte Gott den Juden, von denen er zuerst die meisten umbringen läßt, ein Land schenken? Das wäre so, als würde einer sagen, es gibt Brände, damit die Feuerwehr mit roten Autos, Blaulicht und Sirenen durch die Stadt rasen kann. Das ist doch meschugge. Nein. Die Feuerwehr gibt es wegen der Flammen. Der Staat wurde gegen den Antisemitismus gegründet. Alle unsere Erklärungen taugen nicht, da sie nicht beantworten können, warum solch ein Verbrechen sein mußte. Was aber, wenn die Antwort für uns nur nicht zu erkennen ist, weil sie in der Zukunft liegt. Vor uns. Vor unseren Augen. Vor unserer Nase!«
Ethan war verstummt. Berkowitsch fuhr fort:»Sie müssen es doch verstehen. Sie sind doch nicht so blöd. Eben deshalb, weil unsere Erklärungen nichts erhellen, bleibt alleinig der Verweis auf Gott. Verstehen Sie?«
Ethan begann die Ungeheuerlichkeit zu begreifen, die Berkowitsch andeutete.»Sie wollen doch nicht sagen, die Vernichtung sei Gottes Schöpfung? Der Massenmord ist ohne Sinn, ist das Widersinnige schlechthin!«
Der Rabbi winkte ab:»Die Shoah das Ergebnis blinder Zufälle? Die Untat ist so böse, so monströs. Sie schreit nach einem zentralen Plan. Gottes Existenz war nie so offenkundig wie in jenem Augenblick, da er sich nicht zeigte, da er fehlte.«
Ethan fröstelte bei diesem Gedanken:»Auschwitz als Gottesbeweis?«