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Der Rabbiner fuchtelte mit dem Zeigefinger.»Auschwitz als Teufelswerk, und wenn der Satan existiert, wird der Glaube an Gott zur Gewißheit. In der Shoah sehen wir das Übermenschliche, denn es gibt dafür keine Erklärung, die in unseren Kopf paßt. Wir müssen erkennen, daß manches jenseits unseres Geistes liegt. «Und dann schrie er:»Ist es meine Aufgabe, Gott zu rechtfertigen? Er selbst muß sich verantworten. Nur er kann offenbaren, wieso er es zuließ. Und die einzige Antwort, die wir akzeptieren können, ist die sofortige und vollständige Erlösung. Verstehen Sie, Ethan? Nichts weniger! Das Ende aller Leiden. Die Verbannung des Bösen von dieser Erde. Die Herrschaft Gottes durch das Erscheinen des Meschiach. Gesegnet und willkommen König Meschiach. Baruch hu, baruch haba melech hamaschiach!«Die letzten Worte hatte er gerufen, als wäre er der Ansager in einem Boxring in Las Vegas. Eine arabische Familie auf Krankenbesuch, die gerade am Cafe vorüberging, zuckte zusammen, als hätte sich das Gebrüll gegen sie persönlich gerichtet. Eine Krankenschwester rief ihn streng zur Ruhe, er sei hier in einer Klink, in der Patienten geschont werden müßten. Aber Rabbiner Berkowitsch achtete nicht auf die Zurechtweisung, nicht auf die Nebentische, nicht auf die Patientin, die im Rollstuhl vorbeigeschoben wurde. Er sprach weiter und fixierte dabei Ethan, zwang ihn ebenfalls, die anderen nicht zu sehen.»Nichts weniger ist zu akzeptieren. Nichts anderes steht in den Büchern.«

«Aber Rabbi, Sie haben doch gesagt, der Messias sei im Mutterleib ermordet worden.«

«So ist es.«

War es möglich, daß der Rabbiner seine eigenen Worte und ihre Bedeutung nicht erfaßte? Schwungvoll schlug Rabbi Berkowitsch einen Ordner auf. Der Deckel drückte die Cremetorte flach, und die weiche Füllung quoll hervor.»Ich sehe, was Sie denken, Herr Professor. Ich weiß durchaus um den Widerspruch in meinen Aussagen. Dieses Paradoxon ist es, auf das wir in den Schriften stoßen. Einerseits die Prophezeiungen, der Messias werde kommen, die Welt zu befreien, und im Gegensatz dazu die Vorhersagungen der Katastrophe. Die versteckten Zeichen, wann und wo er gezeugt werden soll, aber ebenso die verborgenen Hinweise in eine ganz andere Richtung. Wie sollte ein Embryo, der ermordet wurde, zum Herrscher der Welt werden können? Wie kann der Lauf der Geschichte umgekehrt werden?«

Der Rabbiner machte eine Pause, in der er die Tortencreme vom Karton des Ordners kratzte und zu essen begann. Ethan sah ihm verdrossen dabei zu.»Nu, Rabbi, was ist die Antwort?«

Die Augen des Frommen blitzten. Das Interesse des säkularen Professors war endlich geweckt.»Es liegt an uns, Ethan Rosen. Dies ist der Moment der Entscheidung, die Stunde der Wahrheit. Unsere Generation ist auserwählt, die Herausforderung anzunehmen.«

«Indem wir Tefillin legen?«

«Im Namen des Allmächtigen, ich rede nicht von den Gebetsriemen. Sind Sie beschränkt? Ich spreche von der Schrift, von den Zeichen. Hören Sie nicht? Ich spreche von den geheimen Chiffren, die Gott seit Anbeginn in unserem Innersten verborgen hat. Sie sind der Ursprung und das Ende unseres Seins. Ich rede von einem Embryo und dem Text, der diesem Wesen eingeschrieben war, noch ehe es zur Welt kam. Von Gottes Signatur, die es in sich trug. Was ist denn die Befruchtung, wenn nicht eine Schöpfung? Was findet sich im Kern allen Lebens, wenn nicht die Insignien des Göttlichen, jene Spirale mit genetischer Information, die in der Biologie mit dem Namen Desoxyribonukleinsäure bezeichnet wird, diese Steigleiter unseres Selbst. Diese rotierende Doppelhelix ist, das sagte ich auch meinen rabbinischen Kollegen, die Grundeinheit jeder Thorarolle. Sie ist uns von Gott gegeben. Verstehen Sie, Herr Professor? Wir müssen nur bereit sein, sie im Lichte unseres Wissens zu lesen.«

Ethan schüttelte den Kopf.»Ich glaube, ich verstehe Sie nicht. Besser gesagt, Sie können doch nicht meinen…«

«Das Kollegium aus Rabbinern verstand mich sofort, Herr Professor. Warum sind Sie so begriffsstutzig? Passen Sie auf. Es steht alles geschrieben. Wir wissen über den Messias genug, wenn wir die Zeichen und Codes entziffern. Warum sollten wir nicht tun, was wir seit Jahrtausenden machen und was die Essenz unserer Religion ist? Wir lesen und lernen auswendig. Wir schreiben ab und bleiben den Buchstaben treu. Weshalb nicht kopieren, was uns gegeben wurde? Wieso nicht mit Hilfe unseres Wissens gegen die Auslöschung und die Vernichtung ankämpfen? Der Text ist da. Die Paraphe Gottes liegt vor uns. Wir wissen viel über jenen Embryo, der getötet wurde. Wir müssen nur die allernächsten Verwandten finden, die überlebt haben. Wir können dann mittels gentechnischer Verfahren und mit Unterstützung unserer talmudischen und kabbalistischen Lehren, vor allem aber mit der Hilfe des Allmächtigen, ja, beesrat hashem, das Experiment wagen.«

«Rabbi, sind Sie total meschugge? Sie wollen den Messias klonen? Wie Dolly, das Schaf?«

Der Rabbiner frohlockte:»Sehen Sie, jetzt haben Sie es endlich verstanden. Obwohclass="underline" Es ist kein Klonen, da wir ja gar kein Original haben. Noch nicht! Aber aus den Keimzellen der allernächsten Verwandten wollen wir jenes Kind wieder erstehen lassen, das bereits einmal gezeugt und das ermordet wurde, ehe es zur Welt kam. Wir werden dazu vielleicht Tausende von Embryos brauchen — und Gottes Hilfe.«

Rabbi Berkowitsch war mit seinem Vorhaben auf die Ablehnung der Gelehrten gestoßen. Sein Ansehen hatte gelitten. Dieser Mann war unter den Ultraorthodoxen des Landes berühmt. Wenn von ihm die Rede war, horchten fromme Chassiden auf. Nicht wenige waren von seinen Ideen fasziniert. Viele achteten sein Wissen und bewunderten seine Entschlossenheit. Er wußte aufzutreten. Er leitete eine eigene Denkschule. Sein Zentrum lag in einem kleinen Städtchen unweit von Tel Aviv. Hier empfing er Menschen aus seiner Gemeinde. Nachts hielt er Audienz, tagsüber arbeitete er mit seinen engsten Schülern und Vertrauten. In den frühen Morgenstunden warteten im Bethaus jene, die seinen Rat suchten, seinen Schiedsspruch erbaten oder seinen Segen erhofften. Sie standen in einem kahlen Eingangsraum, Neonlicht bleichte das Zimmer, aus dem eine steile Treppe in ein winziges Büro führte, in dem Rabbi Berkowitsch auf einem Sofa hinter einem Tisch saß. Ihm gegenüber an der Wand lehnte ein junger Chassid, der dem Rabbiner zur Hand ging, wenn er etwas brauchte, und die Besucher heraufrief.

Selbst jene, die seinen Gedanken ablehnend gegenüberstanden, konnten sich seiner Faszination nicht völlig entziehen, denn seine Abhandlungen waren von einer bestechenden Logik, wenn sie auch zumeist zu überraschenden und sogar skandalösen Folgerungen führten. Besondere Empörung hatte seine These vom embryonalen Tod des Messias hervorgerufen, aber Berkowitsch verteidigte die Theorie mit allen argumentativen Mitteln. Er trat seinen Gegnern selbstbewußt entgegen. Weshalb seine Idee denn soviel abwegiger sei als jene Theodor Herzls, der vor mehr als hundert Jahren in Basel die Gründung des jüdischen Staates prophezeite? War nicht verkündet worden, nur Gott allein werde die Juden heimführen? Und hielt man nicht jene religiösen Fraktionen für verrückt, die zu glauben begonnen hatten, ausgerechnet die säkularen Linken könnten das himmlische Werk vollenden? Hatten viele religiöse Gelehrte nicht gehofft, pünktlich mit Ben Gurion die messianische Zeit einzuläuten? Und war es etwa verständlich, Siedlungen zu gründen mitten in arabischen Städten? Oder Kindergärten zu errichten, die nur unter dem Schutz einer jüdischen Besatzungsarmee existieren konnten? Wieso sei dieses politische Vorgehen geheiligter als der Versuch, mit laizistischen Wissenschaftlern die Niederkunft des Messias anzustreben? Hieß es nicht mit gutem Grund, in diesem Land sei nur ein Realist, wer an Wunder glaube, mit ihnen rechne und auf sie baue? Er verstehe die Zurückhaltung nicht. Es gebe doch Chassiden, die sich nur rennend durch die Welt bewegten, weil sie in der Shoah ein Zeichen der Endzeit sehen und das Nahen des Messias erwarten. War es da nicht vernünftig, zumindest die Chance zu ergreifen, mit modernen Mitteln für die alten Verkündungen zu arbeiten? Was sollte daran falsch sein, es zu wagen? Wenn das Experiment mißlang, würde eben kein Messias, sondern das eine oder andere jüdische Kind geboren werden. Künstliche Befruchtung war nichts Außergewöhnliches mehr. Was aber, wenn durch diese Intervention die Welt gerettet und neu erschaffen würde? Mußte diese Möglichkeit nicht genutzt werden?