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«Seit vielen Monaten suche ich nach den Überlebenden jener Familie, aus deren Mitte der Meschiach hätte entspringen sollen. Ich stieß auf die Linie, aus der die Mutter des ungeborenen Kindes stammte, verfolgte deren Stammbaum, und — ahnen Sie es nicht schon, Professor Rosen? — Sie sind ein entfernter Verwandter jenes Embryos, der in Polen ermordet wurde. Sie sind einer der Angehörigen und jung genug, um ein Samenspender im großen Experiment zu sein. Sie mögen keine Tefillin legen, nicht koscher essen, den Schabbath nicht halten und die hohen Feiertage nicht begehen, aber Sie können uns Ihr Sperma geben und sich unserem Projekt verschreiben. Es geht um das Vermächtnis, um das Erbe, um eine Hypothek aus der Vergangenheit.«

Der Rabbiner fuhr sich mit der Hand durch seinen Bart. Ethan starrte den Frommen an. Warum hatte er sich nur auf dieses Treffen eingelassen? Er hatte es mit einem Meschuggenen zu tun, einer Gestalt aus dem Altertum, wie sie in diesem Land zu Abertausenden umherwuselten, Pilger, die plötzlich glaubten, Christus höchstpersönlich zu sein, und für die eine eigene Jerusalemer Klinik eingerichtet worden war, die auf dieses sogenannte Jesussyndrom spezialisiert war. Mönche, die umherliefen, als wären die Kreuzzüge noch nicht vorbei. Priester, die miteinander stritten, welche Stufe in der Grabeskirche der einen und welche der anderen Kongregation gehörte. Seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten lehnte an einem Fenstersims über dem Haupteingang des Heiligtums eine kleine verwitterte Holzleiter, die irgend jemand vor Generationen dort vergessen hatte. Sie konnte seither nicht weggeschafft werden, weil nicht geregelt war, welche Glaubensgruppe dort überhaupt hinlangen durfte. Da waren Muftis, die gegen jedes archäologische Unternehmen in der Altstadt predigten. Die Juden, so wetterten diese muslimischen Geistlichen, wollten den Felsendom unterhöhlen. Aber auch ultraorthodoxe Rabbiner wehrten sich gegen die Ausgrabungen, da die vor Jahrtausenden Verstorbenen durch die Freilegungen in ihrer Totenruhe gestört würden. Einig waren sie sich nur, wenn es darum ging, eine gemeinsame Parade von arabischen und jüdischen Schwulen durch Jerusalem zu verhindern. Die Pressekonferenz der gottvollen Männer in ihren weiten Röcken, im Ornat oder im schlichten Schwarzen, mit Mitra, Spitzkapuze oder Ballonhütchen, geschmückt mit Ringen, Broschen, Medaillons, Amuletten, Steinen, Juwelen und Ketten, war Ethan wie eine Drag Queen Show vorgekommen.

Rabbiner Berkowitsch hörte nicht auf zu reden. Was habe Ethan denn zu verlieren? Erscheine der Messias, werden — das sollte Ethan doch ansprechen — auch die palästinensischen Leiden überwunden sein und Juden und Araber in Frieden miteinander leben. Es würde kein Arm geben und kein Reich. Von ihm werde nur verlangt, hier in dieser Klinik die Abteilung für Genetik aufzusuchen, die an diesem Projekt arbeite.»Ja, Herr Professor, glauben Sie mir. Die Unterstützung für mein Unternehmen wächst.«

«Aber Rav Berkowitsch, mit künstlicher Befruchtung in einer Ehe hat das nichts zu tun. Sie wollen die Gene manipulieren. Das ist ja Eugenik und nicht Gottvertrauen.«

«Sehr richtig. Sie haben das sehr gut verstanden, Herr Professor. Deswegen werde ich in letzter Zeit von meinen früheren Freunden wie ein Abtrünniger behandelt. Aber wir haben keine Wahl. Die Shoah zwingt uns zu diesen Methoden. Der Zug der Zeit ist nicht aufzuhalten. Bedenken Sie doch, es geht um den Meschiach.«

Er sah sich um und flüsterte:»Ich finde immer mehr Unterstützung. Menschen auf der ganzen Welt. Juden in New York. Protestanten aus Texas, die glauben, das messianische Kind sei die Rückkehr von Jesus Christus. Sogar eine katholische Sekte. «Rabbiner Berkowitsch verzog den Mund.»In den Kirchen liegen lauter Körperteile. Reliquien. Bereits im Mittelalter florierte der Organhandel. Blutphiolen von Konstantinopel nach Brügge. Nieren von Perugia nach London und von dort nach Paris. Herzen und Hirne, Lebern und Lungen, Haarlocken, Hautschnipsel, Finger und Knochensplitter wurden durch Europa transportiert. Die Dome sind heute noch Leichenschauhäuser. Von manchen Heiligen scheint es so viele Zähne zu geben, daß sie über das Gebiß eines Krokodils verfügt haben müßten. Von einigen Märtyrern existieren genug Wirbel, um daraus den Hals einer Giraffe formen zu können. Meine katholischen Sympathisanten sind ausgerechnet auf die Reste der Vorhaut des beschnittenen Jesuskindleins spezialisiert. Sie sind ganz versessen darauf. Das Präputium dieses jiddischen Säuglings ist ihre Sammlerleidenschaft. Ihre Passion! Von dieser Vorhaut gab es einst viele Schnipsel. In einem italienischen Dorf, Calcata, wurden bis vor kurzem noch Prozessionen damit abgehalten. Dem Vatikan gefiel das gar nicht, und plötzlich war das Stück weg. Gestohlen. Stellen Sie sich vor, wir würden mit dem Abfall der Brith Millah Festzüge veranstalten! Das würde uns gerade noch fehlen. Heute gibt es nur noch wenige Exemplare der Vorhaut. Früher hätten sie aus den vielen Spitzkeles einen Fallschirm nähen können. Wie auch immer. Diese katholische Sekte nennt sich Zelle des Heilands, denn sie hofft, aus reaktivierten Zellen der Vorhaut Jesus klonen zu können. Sie sind aber auch an meinem Projekt interessiert. Sie hoffen, mein Meschiach ist die Wiederkehr von ihrem Jesus. «Rabbi Berkowitsch lehnte sich zurück.

Er brauche sich nicht sofort zu entscheiden. Er solle überlegen, was er für seine Samenspende wolle.»Wir sind bereit zu zahlen. Viel. Sehr viel! Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, Ihren Beitrag zu honorieren. Denken Sie nach. Wir erfüllen Ihnen gerne Ihre Wünsche. «Rabbi Berkowitsch zog eine Visitenkarte aus der Jackentasche. Ethan möge sich melden, sobald er einen Entschluß gefaßt habe.

Noa lachte, als Ethan ihr von Rabbi Berkowitsch erzählte. Am besten gefiel ihr, daß Ethan das Angebot ablehnen wollte. Immerhin, lachte sie, hänge von ihm nicht weniger als das Erscheinen des Messias ab.

Am nächsten Tag besichtigten sie gemeinsam eine Wohnung, von der ihm ein Kollege an der Universität erzählt hatte. Altes Bauhaus. Der Besitzer, ein alter Mann in blütenweißem Hemd und anthrazitschwarzer Hose, schloß ihnen auf. Das Appartement hatte einen großen Balkon, der Mietpreis war fair. Sie entschieden sich schnell. Einziehen wollten sie allerdings erst kurz vor Nuriths Rückkehr aus Amerika. Noch mußten sie Tschuptschik, den rotgetigerten Kater, und die Wellensittiche versorgen.

Am Wochenende besuchten sie seine Eltern. Ethan umarmte Dina und Felix. Er nickte Rudi zu. Noch nie habe er sich in Israel so zu Hause gefühlt, erzählte der Österreicher. Er sei am Tag zuvor in Jerusalem gewesen. Er spüre inzwischen, wie sehr es seine Stadt sei. Er wolle Israeli werden. Noa meinte, es knirschen zu hören. Eine Verspannung im Raum. Während Felix und Dina ein freudiges Gesicht machten, sah sie, wie es Ethan forttrieb.

Er habe einen neuen Artikel über Dov geschrieben, der in der Wochenendbeilage jener österreichischen Zeitung erscheinen werde, in der auch sein Nachruf veröffentlicht worden war. Diesmal sei es ein Porträt geworden. Felix klatschte in die Hände. Dina nickte zufrieden. Noa und Ethan fragten, ob sie es lesen dürften. Rudi reichte ihnen das Papier. Es war als Lobeshymne gedacht. Hatte Rudi damals durchblicken lassen, Dov letztlich für seinen Zionismus zu verurteilen, verteidigte er nun den Anspruch auf das verheißene Land. Er feierte Dov dafür, daß er kein Opfer mehr sein wollte, sondern ein freier Mensch. Im Grunde war Dov wieder als radikaler Nationalist dargestellt, nur wurde es diesmal anders bewertet.

Noch habe er den Artikel nicht nach Wien geschickt. Ob die anderen ihn nicht auch lesen wollten. Er würde gerne wissen, was sie davon hielten, wolle ihre Kritik hören. Felix winkte ab:»Ich bin kein Zensor. Du hast das sicher wunderbar gemacht. Ich vertraue dir voll und ganz.«