Rudi schüttelte den Kopf. Er fühlte sich hier verjüngt. Tel Aviv — wenn er durch diese Straßen ging, war ihm, als wären alle, die ihm entgegenkamen, Büchern entsprungen. Sie redeten Hebräisch, Jiddisch, Französisch, Russisch, Englisch, Polnisch, Deutsch, Italienisch, Amharisch oder Arabisch. Und da waren auch noch die papierlosen Zuwanderen Sie sprachen Filipino, Rumänisch, Mandarin, Yoruba oder auch Igbo.
Eines Tages war er durch eine schmale Gasse gegangen, die parallel zur Strandpromenade lief, dann im rechten Winkel abbog, um in die Dizengoff, die rastlose Geschäftsstraße, zu münden. In diesem engen Durchfahrtsweg zwischen den alten Bauhausgebäuden war es mit einemmal ganz still. Eine Katze strich eine Mauer entlang, irgendwo Vogelgezwitscher und plötzlich von einem kleinen Balkon im ersten Stock die unverkennbare Stimme von Lotte Lehmann. Sie sang eines ihrer Lieblingslieder, den Gesang Weylas. Zunächst das leise Wogen des Klaviers, dann die ersten Worte. Du bist Orplid, mein Land! Die Hymne auf ein Land der Sehnsucht, auf einen Ort, der nah und fern zugleich war, und dann sah Rudi einen alten Mann im kurzärmeligen Hemd, mit dicker Hornbrille und schlohweißem Haar, eine greisenhafte Gestalt, die auf der Veranda saß und stumpf vor sich hin blickte. War er noch mit der Schallplatte im Gepäck hierher entkommen? Dachte er jetzt zurück an die einstige, die unrettbar verlorene Heimat? Im Tel Aviv der dreißiger und vierziger Jahre war Deutsch aus den Straßen und Kinos verbannt worden. Bei manchen deutschen Filmen war als Sprache Österreichisch angegeben worden, um keinen Unmut zu provozieren. Du bist Orplid, mein Land! / Das ferne leuchtet. Lehmanns Gesang gewann an Kraft. Die Musik steigerte sich zum Crescendo. Vom Meere dampfet dein besonnter Strand / Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet. Rudis Hemd klebte an der Haut. Die Mittagshitze war unerträglich. Die Stadt brodelte. Sie war weit weg und doch nur hinter der nächsten Ecke. Uralte Wasser steigen! Verjüngt um deine Hüften, Kind!
Er war weitergegangen, ohne vom alten Mann auf dem Balkon entdeckt worden zu sein. Als er das Gäßchen verließ, stand er wieder im Lärm. Eine Asiatin stöckelte an ihm vorbei. Die Jeans saßen tief auf den Hüftknochen. Der Stringtanga lugte seitlich hervor. Sie klingelte an einem Geschäftslokal, das zu einer Wohnung umgebaut worden war. Jemand öffnete ein Fenster, worauf sie auf das Gesims stieg, um hineinzugelangen. Rudi überquerte die Straße, an der die großen Hotels lagen. Auf einem heruntergekommenen Platz über dem Meer — die Ruine einer verrotteten Diskothek erinnerte hier an die Exaltiertheit und das Klangfieber der achtziger Jahre — trank er an einem Stand einen Becher frisch gepreßten Orangensaft. Ein Afrikaner schleppte eine Kühltasche umher und sang den Namen der Eismarke, die er anbot:»Artik!«
Nahe der Brandung, wenige Meter entfernt von den Surfbrettern der Jugendlichen und von den Chassakes, wie die alten levantinischen Flachboote der Lebensretter hier genannt wurden, verlief die Jarkon, und wer ihr nordwärts folgte und dann nach rechts abzweigte, konnte bereits das Haus erkennen, in dem Felix und Dina wohnten. Von ihrem Wohnzimmer aus reichte der Blick über die Flachdächer, über die Wassertonnen und das Antennengestrüpp bis zu den Minaretten und dem Uhrturm in Jaffa. Der Weg zur Wohnung wurde gekreuzt von der Dizengoff, wo die Lokale überlaufen waren und die Kellner in der Mittagshitze von einem Tisch zum nächsten jagten, und inmitten des Getöses war Rudi, als säße er am Boulevard Saint-Germain oder in Berlin am Kurfürstendamm.
Du bist Orplid, mein Land. Von hier war es nicht mehr weit bis nach Jaffa, wo Ruinen arabischer Häuser neben neuen Prachtbauten lagen, die sich nahe der Küste erhoben. Aber was war schon weit? Nicht Gaza, nicht Ramallah und nicht Jerusalem.
Ethan sagte zu ihm:»Du hast keine Ahnung. Als ich ein Kind war, mag es noch Reste des ursprünglichen Tel Aviv gegeben haben. In den Sechzigern, als ich noch unterm Tisch herumkrabbelte, redeten die Erwachsenen oben unaufhörlich von Politik. Jede Handlung war vollgesogen mit Politik. Sie sprachen und sie sangen davon. Sie lachten und sie weinten darüber. Glaube mir. Wenn ich mit anderen Kindern abends vom Spielen zurückkam, schallte der einzige israelische Fernsehsender aus allen Wohnungen. Wenn die Nachrichten kamen, wurde in allen Häusern der Ton lauter gestellt, und wir, die Kleinen, trippelten von den Neuigkeiten begleitet heim. Damals — sogar noch in den Siebzigern — fuhren viele mit den öffentlichen Bussen, und der Fahrer ließ das Radio laufen, stellte es zur vollen Stunde lauter oder wurde von einem der Fahrgäste darum gebeten, weil keiner etwas versäumen wollte und schon gar nicht den nächsten Anschlag oder eine kommende Eskalation. Und selbst noch in den Neunzigern hingen alle an den Geräten, wenn es wieder Sondermeldungen gab. Aber heute, Rudi, wenn ich die Kollegen von der Arbeit, die Studenten in meinen Vorlesungen, meine Jugendfreunde sehe, spricht keiner mehr gerne über Politik. Die Leute reden nicht mehr über die Regierung und die Parteien, sondern sie streiten allenfalls über die neuesten Restaurants und Pubs. Früher trafen sie sich beim Essen, um zu politisieren, später politisierten sie nur noch, um gut essen zu können. Heute verdirbt ihnen ein Wort über die nationale Lage den Appetit.«
Rudi widersprach nicht. Er erinnerte sich an einen Nachmittag, den sie zunächst zu dritt am ehemaligen Hafen verbracht hatten. Ein Lokal direkt an der Küste. Über ihren Köpfen waren Flieger hinweggezogen, um auf dem kleinen Flughafen in der Nähe zu landen. Später setzten sich einige alte Freunde von Noa zu ihnen, mit denen sie sich verabredet hatte. Alle waren künstlerisch tätig. Sechs Singles und drei Pärchen. Kinder mit Skateboards und Fahrrädern.
Auch in dieser Runde war der Konflikt kein Thema mehr, weil ohnehin bereits alles gesagt war. Wozu sich wechselseitig versichern, wie hoffnungslos die Lage war? Weshalb so tun, als wäre von dieser Koalition irgend etwas zu erwarten? Oder auch von der Opposition? Vor wenigen Jahren hätten Noas Bekannte einem Ausländer wie Rudi erklärt, unter welchen Bedingungen ein Frieden machbar sei. Leute wie sie wären überzeugt gewesen, das Land müsse bloß geteilt werden. In der Zwischenzeit waren die Parolen der ehemals Linken zu den Leerformeln der Mehrheit geworden, zu einem Konsens, der allen nun nur noch wie ein bloßes Lippenbekenntnis erschien. Diejenigen, die jahrelang vergeblich zu Verhandlungen aufgerufen hatten, waren nun gespalten. Die einen glaubten, auf der anderen Seite sei niemand, mit dem zu reden wäre.»Es gibt keinen Partner«, wiederholten sie bei jeder Gelegenheit, und wenn es um militärische Fragen ging, sagten sie gerne:»Ejn brera«, was nichts anderes bedeutete als:»Es gibt keine Alternative. «Die anderen hingegen meinten, die eigene Führung und die Siedler seien schuld, daß keine Lösung in Sicht war. Manche dachten, es sei längst zu spät, um die beiden Nationen noch in je einen Staat auftrennen zu können. Fast alle aber hatten aufgegeben.