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Zwei Tage später saßen Rudi und Ethan in einem Cafe. Ethans Absagen waren aufgefallen. In dem Troß, der von einer international besetzten Konferenz zur anderen rund um den Globus zog, zählte er zum festen Kern. In den letzten Wochen war er zu sieben verschiedenen Veranstaltungen nicht erschienen. Nun sollte er in Los Angeles, im Museum der Erinnerung, sprechen, aber wieder hatte Ethan erklärt, nicht hinfahren zu wollen.»Ein Kollege fragte mich bereits, ob es stimmt, daß du im Sterben liegst«, sagte Rudi.

«Was hast du ihm geantwortet?«

«Ich erzählte ihm von einem Familienleiden.«

Ethan hatte Rudi gebeten, den Vortrag in Los Angeles für ihn zu halten.»Du wirst ja ohnehin dort sein. Warum solltest du nicht neben deinem Referat auch meines ablesen. Ich werde einfach einen alten Text ein wenig umschreiben.«

Zwei Tage später flog Rudi in die USA. Im Flugzeug schrieb er seine eigene Vorlesung zu Ende. Der Zwischenstopp war kurz bemessen. Der Flug von Tel Aviv hatte Verspätung, und so fürchtete er, den Anschluß in Heathrow zu versäumen. Er stürzte aus dem Flugzeug, hastete mit seinem Köfferchen und seiner Computertasche die Gänge entlang.

Heathrow versank an diesem Tag wieder im Chaos, der Flughafen platzte aus allen Nähten. Im Transitbereich herrschte Gedränge, vor den Sicherheitskontrollen ging nichts voran. Als er endlich an der Reihe war, warf er Schlüssel, Portemonnaie, Gürtel, Kugelschreiber, Mobiltelefon in eine Plastikschale und bettete sein Sakko darüber. Den Laptop legte er in eine zweite. Er lief durch die Sicherheitsschleuse und sammelte schnell seine Sachen ein, hastete weiter. Als er schon fast am Gate war, griff er sich an die Hosentasche. Das Portemonnaie mit dem Bargeld und allen Kreditkarten war weg. Er rannte zurück zur Sicherheitskontrolle.

Erst als Rudi verzweifelt bat, alle Behälter noch einmal zu durchsuchen, tauchte seine Brieftasche wieder auf. Längst war er überzeugt, den Anschluß nach Los Angeles nicht mehr zu erreichen. Aber wenig später bestieg er nicht nur das Flugzeug; die Boeing wartete dann noch eine Stunde auf der Rollbahn, bis sie endlich eine Starterlaubnis erhielt.

Zu erschöpft, um einschlafen zu können, schaute er sich Spielfilme auf dem kleinen Monitor an. In Los Angeles wurde er von einem der Assistenten abgeholt, um zum Abendempfang in ein Nobelrestaurant gefahren zu werden. Rudi hätte sich am liebsten im Hotel verkrochen. Er wollte aufs Klo, ins Bad und ins Bett, doch die anderen Wissenschaftler, von denen die meisten früher angekommen waren, saßen bereits zu Tisch. Alle erwarteten ihn, erklärte der Assistent. Es dauerte, bis sie endlich da waren. Er wurde überschwenglich begrüßt. Rudis letztes Buch über museale Darstellungen von Minderheiten in Europa hatte viel Anerkennung erfahren. Er war bei den letzten Tagungen aufgefallen. Seit Ethan nicht mehr erschien, galt er als neuer Name in seinem Forschungsgebiet. Anders als Ethan, der durch seinen Sarkasmus und seine dunklen Szenarien beeindruckte, begeisterte Rudi durch seine leichte Ironie und vage Zuversicht. Um so spannender fanden es alle, daß Rudi für Ethan einsprang.»Hier ist er ja«, rief der Konferenzleiter ihm entgegen, und zu den anderen gewendet:»Rudi Klausinger wird nicht nur sein eigenes Referat halten, sondern auch Rosens Einleitungsvortrag lesen. Sagen Sie, geht es Ethan schon besser? Wir machen uns Sorgen.«

Das Essen dauerte lange, er war todmüde. In Israel hatte längst ein neuer Tag begonnen, in Los Angeles fing der Abend erst an. Nach Mitternacht und ziemlich besoffen fiel Rudi ins Bett. Am nächsten Morgen fühlte sich sein Schädel an, als wäre er über Nacht zum Medizinball angeschwollen. Er kam zu spät zum Frühstück. Er war der letzte im Raum. Alle anderen brachen schon zur Veranstaltung auf. Er rannte ihnen hinterher. Erst während der Vorstellungsrunde gelang ihm ein Blick in Ethans Eröffnungsvortrag. Er überflog den Text, wendete die Blätter hin und her, und — kein Zweifel — er erkannte den Inhalt wieder. Es war der Artikel, aus dem er in seinem Nachruf auf Dov zitiert hatte.

Ethan hatte seine provokanten Thesen in Israel geschrieben, in Osterreich dagegen protestiert, als Rudi sie aufgriff, und ließ sie jetzt in den USA von ihm wiederholen. Wollte Ethan sich über ihn lustig machen? Er überflog die Sätze, und alles, was da stand, kam ihm falsch vor. Er konnte hinter diesen Worten unmöglich stehen. Er hatte nun Wochen bei Felix und Dina verbracht, von ihnen viel Neues über Dov Zedek erfahren und auch selbst noch über ihn recherchiert. Nicht nur das: In diesem Museum in Los Angeles konnten Ethans Theorien nur verrückt wirken. Sie riefen hier nicht dieselben Assoziationen hervor wie in Israel oder Österreich.

Er las den Text im wahrsten Sinne des Wortes herunter, ein Satz wurde geleiert, der nächste geseufzt, der dritte gemurmelt, doch das Auditorium verstand seinen Stil als Inszenierung und passende Darbietung der spöttischen Gedanken. Ihm wurde gratuliert, seine Präsentation besonders gewürdigt, und dann wurde er gebeten, gleich fortzufahren, denn nun beginne mit seinem Papier das erste Panel. Rudi war voller Zorn. Nicht gegen Ethan richtete sich seine Wut, sondern gegen die Kollegen, die nicht begriffen, wie verkehrt alles gewesen war, was sie soeben gehört hatten. Er änderte deshalb seinen eigenen Vortrag ab. Rudi antwortete den Zweifeln, die Ethan geäußert hatte, und betonte die Notwendigkeit der Erinnerung über alle Grenzen und Kulturen hinweg. Er widersprach Ethans Thesen, aber nur indirekt und ohne ihn zu nennen. Die Begeisterung für diese virtuelle Doppelconference führte zu Zwischenapplaus, Nicken und Gelächter. Ein Wissenschaftler aus Florida, eine aufgepumpte Gestalt in Anzug und Krawatte, wisperte:»I love it«, worauf ein Engländer, ein hochgeschossener Historiker in schwarzem Gewand und lackroten Schuhen, ausstieß:»Hilarious!«

Erst als er geendet hatte und die Diskussion eröffnet war, beschlich manchen im Raum doch noch eine Unsicherheit. Aber niemand wagte, ihn direkt darauf anzusprechen, und auch er hatte aufgegeben. Die ganze Auseinandersetzung, die in Osterreich zwischen ihm und Ethan leidenschaftlich geführt worden war, konnte in diesem Rahmen niemanden erregen.

Er sprach nach seiner Rückkehr nicht über den Vorfall. Wozu auch? Nur Noa gegenüber machte er eine Andeutung, doch sie lachte bloß darüber und erzählte ihm von einem Auftrag, den sie übernommen hatte. Neben ihrer Arbeit für eine Firma, die Prothesen herstellte, entwarf sie den Look für das Magazin einer Organisation, die papierlose Einwanderer unterstützte.

Ethan interessierte sich kaum für Noas Projekte, weil er in seine eigenen Studien verstrickt war. Rudi hingegen konnte ihr endlos zuhören. Er wußte nichts von den Aufgaben einer Grafikerin, und ihn beeindruckte ihre Vielseitigkeit. Für sie schien es keine Routine zu geben. Ihre Person fügte sich nicht ein und wirkte dennoch überall stimmig. Sie fiel aus dem Rahmen. Verstohlen schaute er ihr nach, schielte nach ihr. Wenn sie seinen Blick erwiderte, hob sie eine Augenbraue. Er fühlte sich nicht ernst genommen.»Hallo Halbschwager«, rief sie ihn.

Er war sich plötzlich unsicher, ob seine Zuneigung für die Familie Rosen nicht längst von seinen Gefühlen für Noa herrührte oder umgekehrt seine Begeisterung für die neue Verwandtschaft daran schuld war, daß ihn Noa so reizte. Ihm war nicht einmal ganz klar, ob er sie sehen wollte, weil sie mit Ethan zusammen war, oder ob er seinen Bruder treffen wollte, weil er ständig an sie denken mußte. Ebenso verworren waren seine Gefühle für diesen Staat und seine Pläne hierzubleiben. Nur eines wußte er sicher: Er wollte Jude werden. Er wollte sich durch sein Bekenntnis zu seinem Vater endlich binden.

8

Das Leben in Schwarzweiß. Menschen im Kreis. Die Männer in blumigen Hemden und Jeans. Sandalen an den Füßen. Die Frauen in kurzen Hosen oder weiten, bunten Röcken. Alle singen. Im Zentrum der eine mit der Ziehharmonika.»Laila, laila, haruach goveret. «Der Wind frischt auf, und Dina sitzt vor dem Bildschirm.»Laila, laila«, summt sie, und» numi, numi«, schlaf ein, stimmt sie ein, aber sie schläft nicht, schließt nicht die Augen, denn nachts schwärmen die Erinnerungen aus, machen sich auf den Weg.