Nacht für Nacht thront Dina auf dem Sofa. Schlaf ein, schlaf ein, nur du wartest, schlaf ein, schlaf ein. Nach dem Spätprogramm werden noch die alten Liederabende aus den siebziger Jahren wiederholt. Laila, laila. Ein Schwarzweiß voller Leben. Eine Gruppe sitzt zusammen, Junge und Alte. Sie singen von ihren Träumen, von der Not und dem Schmerz früherer Zeiten. Sie singen von den alten Sehnsüchten, und Dina sitzt da, mehr als dreißig Jahre später, und sinnt dem Singen nach. Sie singen:»Wir haben gesät, doch nicht geerntet. «Sie singen:»Wir kamen ins Land, um aufzubauen und erbaut zu werden.«
Es ist keine Galavorstellung, die hier übertragen wird. Die Sängerrunde sitzt dicht gedrängt in einem schlichten Raum. Vielleicht das Gemeinschaftszimmer in einem Kibbuz. Sie singen, als lauschten sie dem eigenen Echo nach. Der Blick verklärt. Nacht für Nacht harrt Dina aus, bis der Schlaf sie übermannt, und auch heute kann sie sich vom Fernseher nicht losreißen. Im Nebenzimmer liegt Felix. Ermattet. Erledigt.
Nach der Dialyse wollte er sich nicht ausruhen, sondern gleich ausgehen. Im Frederic Rand Mann Auditorium gab es ein Klavierkonzert von Schostakowitsch, und die Eltern hatten Ethan und Noa eingeladen, sie zu begleiten. Ethan kam beinahe zu spät. Am Nachmittag war er in der Klinik gewesen, um seine Samenspende abzugeben. Noa bemerkte gleich, daß ihn etwas quälte. Er grüßte Dina und Felix kaum, drückte sie aber, während er sie auf den Mund küßte, um so fester an sich. Dann setzte er sich neben sie und igelte sich ein. Sie spürte, daß ihn die Musik nicht erreichte. Vorgestern waren sie gemeinsam in ihre neue Wohnung gezogen, und seit Felix aus dem Krankenhaus entlassen worden war, arbeitete Ethan wieder. Er setzte sich morgens an den Schreibtisch, beantwortete seine E-Mails, schrieb dann drei Stunden an einem Buch, von dem er Noa noch nicht erzählen wollte, und widmete sich nach dem Mittagessen kleineren Texten — Aufsätzen, Vorworten und Besprechungen. Er ließ sich bei seinen Studien durch nichts stören, schaltete das Telefon nicht aus, las zwischendurch die neuen Nachrichten, und die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Die Einflüsse von außen inspirierten ihn, lenkten ihn nicht ab, sondern brachten ihn offenbar ständig auf neue Ideen. Freizeit und Beruf zu trennen, konnte er sich gar nicht vorstellen. Als er zerstreut zum Konzert erschien, war Noa überzeugt, er denke noch an seine Arbeit.
In der Pause brachte Felix jedem ein Glas Sekt. Er sagte:»Ich freue mich so, mit euch hier zu sein. Ihr wißt gar nicht, wie sehr. Schade nur, daß Rudi heute keine Zeit hat. «Noa sah, wie Ethan den Mund verzog. Sie wunderte sich. Ethan war in den letzten Tagen gegenüber dem Halbbruder aufgetaut. Gemeinsam waren sie über Rabbi Berkowitsch und seinen Erlösungsplan hergezogen und hatten über Kollegen gespottet. Als Rudi beiläufig erklärte — sie hatten nachts in einer Strandbar Bier getrunken — , er werde die Stelle in Wien keinesfalls antreten, weil er gar nicht daran denke, mit dem eigenen Bruder zu konkurrieren, schien der Bann gebrochen. Ethan beteuerte nun, es gehe ihm gar nicht um die Stelle, und Rudi nickte:»Ich weiß. Mir auch nicht. Im Grunde ging es nie darum.«
Nach dem Konzert bestand Felix darauf, noch zusammen zu essen. Er schlug vor, in ein französisches Restaurant nach Jaffa zu fahren, das in einem alten arabischen Haus eröffnet worden war. Dina klatschte begeistert in die Hände. Noa fragte, ob es denn für Felix nicht zuviel wäre, doch der winkte ab und versuchte, Rudi zu erreichen, der nicht ans Telefon ging. Felix sprach ihm auf Band, er möge hinzukommen.
Die Küche war dann zwar weniger französisch als marokkanisch, aber es schmeckte um so besser. Felix bestellte nicht nur für sich, sondern wollte eine riesige Vorspeisenplatte und danach zusätzliche Beilagen für alle. Als Dina ihn anfuhr, daß niemand soviel essen könne, sagte er:
«Laß das meine Sorge sein. «Und so war es auch. Er sorgte dafür, daß nichts übrigblieb, und tat, als sei er keiner Diät unterworfen.»Bist du verrückt«, schrie Dina ihn an, aber er verschwendete keinen Gedanken an seine kaputte Niere.»Und nun zur Hauptspeise«, rief er, als es zum Dessert ging. Alle winkten ab, aber er nahm sich noch eine Creme Caramel.
Bereits auf dem Heimweg fing es an. Felix ächzte. Noa mußte an den Rand fahren. Er stieg aus dem Auto und kotzte alles aus sich heraus. Dann brach er zusammen und japste nach Luft. Dina redete auf ihn ein. Noa öffnete sein Hemd und fächelte ihm Luft zu. Ethan stand abseits, holte das Telefon hervor und rief den Notarzt. Felix lag da, als würden die einzelnen Teile seines Körpers nicht zueinandergehören. Noa mußte an den Ochsen denken, der in ihrem ersten Sommer in Tirol geschlachtet worden war, wie das Tier in den letzten Sekunden vor sich hin geschnaubt, wie es die Augen verdreht hatte und fast nur mehr das Weiße sichtbar gewesen war, als stülpe sich eine Folie über die Pupillen.
Noa sah Felix sterben, sah, wie sein Blick stumpf wurde, wie er verschwamm und wie Felix unterging. Dina schlug sich auf den Mund und beugte sich zu ihm hinunter, spuckte Küsse auf seine Hand, strich über seine Wange und schrie nichts als seinen Namen.»Felix!«
Ethan sprach mit der Einsatzzentrale, nannte den Ort. Er umrundete den Wagen, um zum Kofferraum zu gelangen.»Wo ist das Pannendreieck, Dina?«Sie schaute ihn an, als käme er von einem anderen Stern. Der Krankenwagen war schnell da, und kaum war der Notarzt ausgestiegen, kam Felix wieder zu sich. Der Mediziner meinte, es wäre nur ein Kreislaufkollaps. Nichts Ernstes. Das Elektrokardiogramm zeige keine Unregelmäßigkeiten. Er wolle den Patienten dennoch zur Beobachtung mit in die Klinik nehmen. Felix aber zerrte an dem Mantel des Arztes und stieß hervor:»Mir fehlt nichts. Nur zuviel gefressen. Nach Hause.«
Sie redeten auf ihn ein.»Felix!«Sie beschworen ihn, er möge sich untersuchen lassen, aber er schüttelte den Kopf.
«Vater, hör auf, verrückt zu spielen. Du hattest einen Anfall!«
Felix rappelte sich auf. Alleine. Er sah sie an, Dina, Noa, den Arzt und Ethan, als hätten sie ihn niedergeworfen, als stemme er sich gegen sie alle hoch. Zurück in der Wohnung, legte er sich sofort hin und schlief ein. Ethan und Noa blieben bei Dina. Sie waren zu aufgewühlt, um zu gehen.
Laila, laila. Nacht für Nacht. Dina schaut zu, wie Frauen wie sie vor langer Zeit von ihrer Jugend sangen. Sie sagte, in einer Sängerin erkenne sie die Jugendliche, die einst in kurzen Hosen, die Füße in dreckigen Stiefeln, Tomaten gepflückt habe. Noa und Ethan könnten es womöglich nicht verstehen, aber sie entdecke sich selbst in dieser Frau.»Ich war gerade aus Wien geflohen, und plötzlich stand ich auf dem Feld. Vor Sonnenaufgang standen wir auf. Im Sommer kämpften wir gegen die Hitze. Im Winter gegen den Schlamm.«
Haita ze'ira bakineret ascher bagalil. Jung war sie am See. In Galiläa. Den ganzen Tag lang sang sie ein Lied. Ein Lied der Freude. Sie kannte nur eines: Jung war sie am See. In Galiläa. Haita ze'ira bakineret ascher bagalil. Die Frau vor der Mattscheibe und jene dahinter sangen das Lied, zwischen ihnen das Glas und die Jahre, und Noa schmunzelte und trällerte ein wenig mit. Ethan sagte:»Ich muß mit dir reden, Ima.«
Dina stellte den Ton aus. Das Singen verstummte, die Lippen rundeten und schlossen sich lautlos, die Köpfe wiegten hin und her.»Was ist denn?«fragte Dina, aber Ethan blieb stumm. Er blickte zu Noa hinüber. Sie stand auf.
«Ich habe keine Geheimnisse vor ihr«, erklärte Dina.»Setz dich, Noa.«
Ethan ging zur Bar, griff zur Whiskeykaraffe und goß sich einen Fingerbreit in eines der Kristallgläser. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, setzte er sich wieder. Es gehe um die Nierenspende. Sie wisse ja, er habe mit Rav Berkowitsch über Felix geredet. Der Rabbiner sei überzeugt gewesen, mit dem Samen von Rudi und Ethan den Messias erzeugen zu können.