Er erinnerte sich, wie er als Wiener Volksschulkind in sein Geburtsland reiste und die einstigen Freunde aus dem Kindergarten traf. Sie sagten ihm, er sei kein echter Israeli mehr, während ihre Eltern das Gegenteil behaupteten und ihm mit wehmütigem Lächeln versicherten, er sei ein richtiger kleiner Sabre. Die Stimmen der Großen wurden dann sehr hoch und dünn, und es klang ein wenig wie das tantige» Du bist ja schon ein ganz ein Großer«, das er von seiner Verwandtschaft ständig zu hören bekam.
Die Wohnung in Wien hatte ihn von Anfang an begeistert. Die Räume waren höher, als er es je gesehen hatte. Der Weg hinaus schien unheimlich lang und lange unheimlich. Er mußte durch endlose Korridore gehen, an Mezzanin und Parterre vorbei, Schwingtüren aufdrücken, um dann an Portale zu geraten, die nicht zu bewegen waren. Um aus dem Haus zu kommen, waren ins Holz des Tores Pforten eingeschnitten worden. Wollte er sie öffnen, brauchte er einen Schlüssel.
In Tel Aviv hatten die Türen offengestanden. Er war mit Freunden um die Häuser gezogen. Sie hatten im Hof die Katzen aufgescheucht. Nach dem Sechstagekrieg lagen noch Sandsäcke vor den Eingängen. Sie hatten Gefechte nachgespielt, waren über Gartenmauern gesprungen und Fassaden emporgeklettert. Ganz anders in Osterreich. An seinem ersten Tag in Wien war er aus dem Haus gelaufen. Aus Neugier. Er hatte nach Kindern gesucht und war sicher gewesen, dafür nicht weit gehen zu müssen. Die Eltern hatten ihm erklärt, er würde auf der Straße keine Spielkameraden finden, doch er hatte sich einfach davongestohlen. In der Wiener Operngasse der sechziger Jahre war er dagestanden, stumm und ratlos; kein Gleichaltriger weit und breit, sondern bloß Erwachsene. Autos donnerten vorbei.
Im Kindergarten gingen alle im Gänsemarsch zur Toilette. Es nützte nichts, wenn Ethan erklärte, er müsse gar nicht. Wer nicht gehorchte, dem wurde gedroht, seine Ohren würden rot gemacht.»Ima, sag ihnen, daß ich schon daheim auf dem Klo war. «Dina sprach mit den Erzieherinnen, bat sie, ihn nicht zum kollektiven Stuhlgang zu zwingen. Ethan begriff nicht, weshalb die anderen Kinder nicht auch rebellierten. Tante Hedwig sah ihre Autorität in Frage gestellt. Kaum war die Mutter gegangen, zerrte sie ihn zur Toilette. Sie packte ihn am Schopf. Er heulte vor Wut. Sie brüllte ihn an, zog ihm die Hose herunter, zwang ihn aufs Klo. Nach einigen Momenten befahl sie ihm, sich die Hände zu waschen, dann stieß sie ihn hinaus. Er taumelte weg, benommen vom Weinen. Im Spielzimmer würgte es ihn, und er mußte sich übergeben. Jetzt schrien sie zu zweit auf ihn ein. Tante Hedwig putzte ihn vor allen anderen herunter. Später beklagte sie sich beim Vater, der gekommen war, um den Buben abzuholen. Felix hörte sich alles stumm an. Ethan war in sich zusammengesunken. Er wußte nicht mehr, wie ihm geschah. Die Großen hatten sich gegen ihn verschworen. Die Erwachsenen waren unter sich und weit über ihm. Papa blieb reglos, während Tante Hedwig auf ihn einredete. Ethan sah den Zorn des Vaters, als sie von seiner Ungezogenheit erzählte.
Zunächst Schweigen, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, dann brüllte Abba los, doch zu Ethans Erstaunen traf die Wut nicht ihn, sondern Tante Hedwig. Was sie sich einbilde, wer sie sei, seinem Sohn sagen zu wollen, wann er auf die Toilette zu gehen habe. Wie sie es wagen könne, dem Kind vorzuwerfen, daß es sich übergeben mußte. Und so etwas nenne sich Erzieherin? Keinen Tag länger werde sein Ethan hierbleiben. Sie aber solle nicht denken, ungeschoren davonzukommen. Dann streichelte Felix Ethan über den Kopf und nahm ihn mit.
«Niemand«, so sein Abba später,»darf so mit dir umspringen. Recht hattest du. Lehn dich auf, wenn sie dich quälen. Laß dir nichts gefallen. Stolz bin ich auf dich. Es ist gut, dein Abba zu sein. Hörst du, Tuschtusch. «Er hielt ihn dabei fest an der Hand und führte ihn über die Straße.»Wir, Ethan, lassen uns nicht mehr auf den Kopf spucken, um danach zu sagen, daß es regnet. Merk dir das, Ethan. Nie mehr! Du bist ein Sabre. Hörst du, Tuschtusch.«
Die Eltern und er waren eine Bastion. Er lernte, zwischen ihrem Auftreten nach außen und ihren inneren Wahrheiten zu unterscheiden. Sie hatten ihre eigene Sprache, die niemand sonst verstand, und waren mißtrauisch gegen die Sätze der anderen. Ethan kannte den Dünkel beider Seiten. Er erinnerte sich an jene Zeit, da er sich in Israel für sein Leben in Osterreich und in Wien für das Geburtsland zu rechtfertigen hatte. In Tel Aviv sagte ein einstiger Freund aus dem Kindergarten, die Rosens seien doch Abtrünnige und Verräter, aber in Wien erklärte ihm ein Klassenkamerad, der jüdische Staat in Zion sei doch nichts als Rassismus. Seine Existenz stand unter Mißkredit.
Allmählich nahm der Verkehr in den Straßen von Tel Aviv zu. An einer Ampel kamen sie zwischen einem Müllwagen und einer Pferdekutsche zu stehen. Eine junge Frau, das Haar aufgesteckt zum Turm, ging über den Zebrastreifen. Sie sah in das Auto und lächelte Ethan zu. Rudi nickte zurück.
Ethan starrte ihn an. Rudi: Das war der andere, der sich in jede Ritze seiner Existenz zwängte. Als wäre er sein ewiger Widerpart. Rudi mißverstand den Blick, erkannte nicht, den Vorwurf darin, sondern sagte:»Sie haben uns beide belogen.«
Ethan hörte den Worten nach. Sie waren ein Echo seiner eigenen Mißbilligung, aber jetzt klangen sie fremd. Wieder kochte Wut in ihm hoch, und diesmal wußte er nicht, auf wen. Die Ampel sprang auf Grün. Er gab Gas und bog in die Hauptstraße ein.
Als das Meer auftauchte, schaute Rudi auf seinen Arm.»Ich habe meine Uhr vergessen. «Er schlug sich mit der Hand auf das Knie und schüttelte den Kopf. Aber er wolle auf keinen Fall zurück zu Felix und Dina. Nie wieder. Ob Ethan bereit wäre, ihm das Erbstück zu schicken? — Er wartete die Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort:»Ich will sie nie mehr sehen. Zu viele Lügen. «Er sah Felix' Kassetten in der Ablage unter dem Armaturenbrett durch. Es waren Songs von Frank Sinatra, Sammy Davis Junior und Barbra Streisand. Rudi sagte:»Immerzu von der Notwendigkeit der Erinnerung sprechen, aber die eigene Geschichte verfälschen ohne Ende. «Zwei Teenager in Badehose und Hemd gingen mit ihren Angeln Richtung Strand.»Der neue Text über Dov ist noch nicht gedruckt worden. Zum Glück. Dieser ganze Quatsch. Ich hab das bloß für Felix geschrieben.«
Ethan fuhr langsam an den Rand. Er schaute in Fahrtrichtung.»Bloß für Felix? Nicht auch für Noa?«Er sah den anderen an. Rudi schwieg. In der elterlichen Wohnung hatte er ihn zärtlich umarmt, und nun dieser Angriff. Aber ebenso unerwartet wie der Vorwurf kam das Lachen. Ethan kicherte, ein Glucksen erst, das in Prusten überging, dann tätschelte er unversehens mit der flachen Hand Rudis Hinterkopf.»Bild dir nichts drauf ein. Ich bin auch ein Bastard. Wir sind es beide.«
Rudi grinste verlegen. Er wußte nicht recht, was der andere im Schilde führte, schielte nach Ethan. Der sagte:»Du spielst immer über Bande, über die Familienbande. Mir brauchst du nichts vorzumachen. Ich habe dich durchschaut. Das war von Anfang an so. Seit dem Nachruf auf Dov. Jeder Gedanke kam mir bekannt vor. Kein Wunder, oder?«Ethan feixte.»Du denkst nicht. Du denkst dich nur hinein. Du schreibst nicht für dich wie andere. Nein. Du schreibst von Anfang an für Felix, für Dina. Für Wilhelm Marker die gemeinsame Erklärung. Auf jeden Fall für die anderen. Nur lügen — lügen, das tust du für dich allein. «Ethan redete sich in Rage:»Du wirfst Felix seine Erinnerungen vor? Du nimmst den Überlebenden sogar Auschwitz übel.«
«Von Überlebenden habe ich nicht geredet. Auch nicht von Auschwitz. «Rudi schüttelte den Kopf.»Ich weiß ja nicht, in welchem Film du gerade steckst, aber du solltest ihn schnell anhalten, auswerfen und zurück in den Videoladen bringen. Ich suchte nur nach meinem Vater.«
«Sie wollten das Beste für uns.«
«Komm mir doch nicht so. Meine Mutter wollte nur das Beste und verschwieg mir deshalb den Namen meines Vaters. Meine Pflegemama wollte nur das Beste und half mir nicht, ihn herauszufinden. Mein Erzeuger war ein Heiratsschwindler und wollte sicher nur das Beste für seine Familie. Und Felix? Dieser Strohmann von einem Liebhaber, dieser ewige Platzhalter, dieser Lückenbüßer! Er hat genau gewußt, wie sehr ich die Wahrheit suchte, und log mir ins Gesicht. Und du? Kaum eine Stunde ist vergangen, seitdem du Felix heftiger angegriffen hast als ich. Jetzt stellst du dich schützend vor ihn, als wäre nichts gewesen. Die Wahrheit erkennst du doch nur an ihrem Gegenteil. Und die Liebe? Seit wann interessierst du dich dafür? Du bemerkst Noa erst, wenn sie mich bemerkt. Ohne mich hättest du sie längst vergessen. Ohne mich wüßtest du immer noch nichts von Dov. Und von Dina. Und von Felix. Ohne mich wärst du noch in Wien. Bei Marker! Von mir wurdest du nicht belogen, sondern von deiner Mutter. Von Felix. Von Dov. Von deinem Vater. Wer immer das ist. Von beiden zusammen.«