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Ethan hörte aus Rudi sich selber reden, und im selben Augenblick dachte er, daß es lächerlich war, sich so aufzuregen. Geheimnisse waren nun einmal der Kern aller Familien. Ohne Märchen keine Erziehung. Ohne Dunkel kein Elternzimmer. Ohne Heimlichkeit kein Heim. Er sagte:»Ja, sie haben uns angelogen. Aber im Unterschied zu dir logen sie der Wahrheit zuliebe. Du hingegen lügst, wenn du die Wahrheit sagst.«

Rudi lachte höhnisch.»Willst du es ausprobieren? Soll ich davon schreiben? In der Zeitung. Die Wahrheit. Den wahren Nachruf auf deinen Vater! Auf beide zugleich! Auf den leiblichen und auf den lieblichen. Diesen Artikel werde ich jetzt schreiben. Na, wie schmeckt dir das? Ich werde euch in eurer ganzen Häßlichkeit darstellen.«

Ethan holte nicht aus, ließ seine Faust nicht gegen Rudis Nasenbein knallen. Kurz blitzte es auf, das Bild vom anderen, der sich vor Schmerz krümmte. Ethan trat nicht zu, bis der andere aus dem Auto stürzte und im Rinnstein lag. Nichts dergleichen. Er saß nur erstarrt da. Er ließ sein Fenster heruntergleiten und sah hinaus auf die Straße. Er atmete durch. Das Echo der Worte hallte in ihm wider.»Den wahren Nachruf auf deinen Vater! Auf beide zugleich!«In der Ferne kam ein Lastwagen näher, und plötzlich griff er nach Rudis Laptoptasche auf dem Rücksitz und schleuderte sie auf die Fahrbahn.

«Bist du verrückt«, schrie Rudi und hob den Arm. Aber obwohl er der Größere war, fand er nicht die Kraft, um auf den anderen einzuprügeln. Ethan, der die emporgereckte Faust sah, explodierte jetzt erst recht und schlug dem anderen ins Gesicht, trommelte mit beiden Händen auf ihn ein. Rudi konnte sich kaum wehren, duckte sich weg, erst das Hornsignal des Lasters schreckte beide auf. Rudi riß die Tür auf, stürzte auf die Straße, packte die Tasche und sprang auf die andere Seite, während der LKW mit Gehupe vorbeiraste.

Sie schauten einander an, in wechselseitiger Verachtung, und dann ließ Ethan den Audi anrollen, während Rudi ihm mit offenem Mund nachsah. Er fuhr dreihundert Meter weiter und blieb stehen. Er stieg aus, worauf Rudi lossprintete, sich abmühte, ihn einzuholen. Ethan ging zum Kofferraum, lud das Gepäck aus, und Rudi schrie, fluchte, kam angekeucht, war bloß Meter vom Wagen entfernt, als Ethan sich wieder ins Auto setzte, gemächlich, um im letzten Augenblick Gas zu geben, dann wieder abzubremsen und erneut zu warten, bis Rudi den Wagen fast erreicht hatte — Ethan fuhr davon.

Rudi hetzte dem Audi hinterher, als könne er die Limousine zu Fuß einholen, das Gepäck hatte er einfach abgestellt. Noch einmal stoppte Ethan und sah den anderen im Rückspiegel heranstürmen, aber wieder wartete er nur, bis Rudi nah genug war, um glauben zu können, Ethan würde ihn nicht mitten auf der Straße zurücklassen, dann brauste er endgültig davon.

Als Rudi das Motorengeräusch in seinem Rücken hörte, wußte er, was passieren würde. Er drehte sich um und sah das Cabrio, vollbesetzt mit Burschen und Mädchen. Der Fahrer war bereits auf die Bremse gestiegen, der Gummi der Reifen hatte eine Spur über den Asphalt gezogen, jetzt riß er am Lenkrad, um dem großen Koffer auszuweichen — und traf statt dessen die pechschwarze Tasche, radierte sie flach, ein Volltreffer, ein Knalleffekt, und mit ihr den Laptop, seine Daten und Dokumente, seine Artikel und Studien, die er, anders als sonst, im Trubel der letzten Wochen nicht gesichert hatte.

Rudi rührte sich nicht, als er den Aufprall hörte. Erst als sie an ihm vorbeigerast waren, hob er die Arme und brüllte. Diese Bande hatte wohl gar nicht begriffen, was geschehen war. Sie konnte nicht ahnen, was sich in dieser Tasche befand. Einer von ihnen lachte Rudi ins Gesicht, ein anderer hielt sich die Hand vor den Mund und drehte sich schnell weg, als wäre er bei einem Kinderstreich erwischt worden, nur eine junge Frau blickte sich lange nach ihm um, erschrocken, ernüchtert. Ethan und die Meute im Cabrio, für Rudi wurden sie jetzt eins, waren sie Komplizen, ein Verbund aus Scheinheiligkeit, Pharisäer allesamt, auch Dina und Felix, aber ebenso Noa, die ihn mit einemmal an jenes Mädchen erinnerte, das mit den anderen im Auto saß und ihn mitleidig und stumm angestarrt hatte. Stumm. Erst als er erledigt gewesen war, hatte sie ihn umarmt. Das war es wohl, so dachte er, was mit Judaskuß gemeint war.

Er war übernächtigt und verschwitzt. Die Hitze nahm von einer Minute zur nächsten zu. Er lief zu seinem Koffer und schleifte ihn an den Straßenrand. Dann sah er nach seinem Laptop. Das Ding war in drei Stücke zerborsten. Er fluchte. Er packte die Teile wieder ein. Vielleicht war da noch eine Chance, dachte er. Er hatte von Firmen gehört, die verbrannte, versunkene und zerbrochene Computer retten konnten. Er glaubte nicht wirklich daran, aber er wollte darauf hoffen.

Er schleppte den Koffer und die Tasche langsam weiter. Dann nahm er sein Handy und rief ein Taxi. Warum hatte er nicht sofort eines bestellt, als er von Ethan aus dem Auto geworfen worden war? Vollkommen erschöpft, derangiert und verschmutzt kam er im Hotel an.

In seinem Zimmer sah er sich das Gerät noch einmal an. Er versuchte, die einzelnen Teile zusammenzufügen. Er bat um Klebeband. Und ob sie hier auch Superkleber hätten? Für seinen Computer! Er telefonierte mit einem Fachmann in Wien. Wenn die Festplatte zerstört sei, lasse sich nichts mehr machen, erklärte der.

Am nächsten Tag flog er nach Osterreich zurück. Den verkleisterten und geleimten Laptop in der Tasche. Auf eigene Faust war er an die Sache herangegangen, und in diesem Fall war es nicht bloß metaphorisch gemeint, wenn von der eigenen Faust die Rede war. Er hatte um drei Uhr nachts auf den Kasten eingedroschen, denn ihm war vor Jahren von einem Spezialisten gesagt worden, zuweilen brauchten diese hochkomplizierten Apparate eine heftige Erschütterung. In seiner Niedergeschlagenheit setzte er eine Linksrechtskombination an, wie in einem Boxkampf. Mensch gegen Maschine.

Bei den Kontrollen fiel er auf. Er wirkte angespannt, aufgerieben. Der Sicherheitsmann holte einen Kollegen. Eine Frau kam hinzu, die alle anderen zur Seite schob. Sie war offenbar auf die Begutachtung elektronischer Objekte spezialisiert und fragte ihn, ob er das Gerät einschalten könne. Wohl kaum, antwortete er gereizt. Ob sie denn nicht sähe, daß es zerbrochen sei. Einer lachte, als er vom Auto erzählte, vom Cabrio, um genau zu sein. Sie solle es nicht verbiegen, sagte Rudi, sonst mache er sie für jeden Schaden haftbar.

Sie schauten ihn an, als wäre er verrückt. Die Frau griff mit spitzen Fingern nach einem Kabel. Ob er sich darum noch Sorgen mache? Einer von ihnen sagte, und er sah Rudi dabei sehr ernst in die Augen, es gebe Schlimmeres als kaputte Rechner. Sie hier seien verantwortlich für die Sicherheit von Menschen, aber nicht für die seiner Daten. Sie müßten das Ding untersuchen, und zwar sofort, sonst könne er damit nicht an Bord. Das Objekt sei verdächtig. Was denn da für Material aus dem Kasten herausquelle? Wer in aller Welt verkleistere elektronische Geräte mit Superkleber? Ob er schon von Semtex gehört habe? Es brauche nicht viel von diesem Plastiksprengstoff, um eine ganze Maschine in die Luft zu jagen.

«Semtex«, rief ein Israeli, der hinter ihm wartete, und das Wort pflanzte sich fort und verursachte weiter hinten kleine Detonationen. Die Menschenschlange als Zündschnur:»Das weißt du nicht? Explosiv. Ein tschechisches Produkt«, und einer sagte:»Sie haben es bei dem dort gefunden. Aber jetzt nehmen sie ihn auseinander. «Die anderen wichen zurück. Sie sahen ihn an wie einen Idioten, dem ein Paket untergejubelt worden war von Terroristen, die alle hier ermorden wollten. Rudi verstand ihre Gedanken. Sie waren ihm keineswegs fremd. Er mußte ihren Argwohn wecken. Seine Angst um seine ungesicherten Dokumente, sein Haß auf Ethan und die Jugendlichen, seine Wut auf Felix und Dina — alles sah man ihm an. Er wirkte merkwürdig, und er wußte es.