An anderen Tagen hätte er ihnen ihren Verdacht nicht übelgenommen, aber nun trug er ihnen alles nach, seinen kaputten Laptop, den Verlust seiner Daten, den Raub seiner Identität, die Lügen von Felix, die Zurückweisung von Noa, die Unterstellung, er habe tschechischen Sprengstoff dabei. Was er denn hier gemacht habe? Wen er im Land kenne? Worüber er schreibe? Ob er verstehe, weshalb sie diese Fragen stellen müßten? Die Sicherheitsleute sahen ihn an. Einer fragte, woher er, der Österreicher, denn so gut Hebräisch könne, und selbst das schien ihm diesmal nicht zu nützen. Im Gegenteil.
Wie gut hätte er vorgestern noch alles erklären können. Er hätte mit seinen Geschichten aufgewartet. Mit dem Liebhaber der Mutter. Mit seinem verschollenen Vater, der Jude sei. Aber er schwieg. Er wußte selbst nicht mehr, was er hier gewollt hatte. Wen im Land kannte er denn wirklich? Hatte er sich nicht in allen getäuscht? Er merkte, wie die Abscheu, die alle vor ihm empfanden, plötzlich von ihm selbst Besitz ergriff, ohne daß er sich erklären konnte, weshalb. Er begann zu schwitzen, und seine Hände zitterten, als er versuchte, ein Schloß an seiner Tasche zu öffnen. Erst nach einer halben Stunde wurde er durchgelassen. Die anderen Passagiere beobachteten ihn aus einiger Distanz.
In Flughäfen hatte er sonst immer das Gefühl, ganz bei sich zu sein. Er dachte daran, gleich nach seiner Ankunft Wilhelm Marker anzurufen. Er würde sich erneut um die Stelle bewerben, und diesmal rechnete er sich bessere Chancen aus, denn der Institutsvorsitzende würde nicht mehr auf Ethan hoffen, und Rudi war für ihn kein Unbekannter mehr. Er sah sich um. Er saß zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Eine arabische Familie, der Großvater mit Kafieh, die Großmutter mit Kopftuch, wartete nicht weit von ihm auf den Aufruf zum Einsteigen. Im Flugzeug setzte sich ein Hüne neben ihn. Ein Amerikaner. Der Riese wußte nicht, wie er seine Beine unterbringen sollte. Alles war ihm zu klein. Er atmete schwer.
Sie schnallten sich an. Der andere schaute auf die Reste dessen, was einst ein Laptop gewesen war. Rudi bemerkte das Entsetzen in den Augen seines Sitznachbarn, und wieder begriff er, wie merkwürdig er wirken mußte. Wer transportierte denn allen Ernstes einen vollkommen zerstörten Computer von einem Land ins andere?
«I have a big problem«, fing Rudi an, aber kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, fuhr der andere hoch, sah ihn an und ballte die Faust. Der Amerikaner zeigte auf das Gerät. Es gebe Spezialisten für solche Katastrophen. Manchmal, je nachdem was passiert war, legten sie einen zerstörten Rechner über Nacht in den Kühlschrank, stellten ihn auf die Heizung oder ließen ihn fallen. Alles bloß, um die Maschine ein letztes Mal hochzufahren und die Daten zu sichern.
Er selbst sei Techniker, ebenfalls ein Troubleshooter. Seine Firma sei international tätig und habe sich auf die Einrichtung von Mobilfunknetzen spezialisiert. Er werde gerufen, wenn schwerwiegende Fehler im System auftreten. Er stamme aus Texas, reise jedoch ständig von einem Land ins andere. Er sei für den Ernstfall zuständig. Nach Tel Aviv sei er gerufen worden, weil Massada, die alte Festung des Herodes, jenes Bergplateau, auf dem sich vor zwei Jahrtausenden die jüdischen Rebellen gegen eine fünfzehnfache römische Übermacht verschanzt hatten, nicht von den israelischen Handybetreibern erreicht werden konnte. Diese Hochebene, die von den Aufständischen einst erobert worden war und wo sie unter Eleasar ben Ja'ir jahrelang der Zehnten Legion getrotzt hatten, bis alle kollektiv Selbstmord begangen hatten, weil diesen Juden die Freiheit kostbarer war als das Leben, liege bereits auf jordanischem Funkgebiet. Wer sein Telefon auf Massada benutzen wollte, geriet — zumindest fernmündlich — unter Fremdherrschaft.»Dieser Zustand scheint eine nationale Katastrophe zu sein«, erklärte der Amerikaner.»Täglich steigen da Tausende hoch, Staatsgäste werden hingekarrt, Soldaten hinaufgetrieben. Allen wird gesagt: Massada darf nie wieder fallen, aber wer seine Großmutter in Haifa, Paris oder Brooklyn anruft, meldet sich aus Jordanien. «Es sei ein Debakel.
«Mich rufen sie aus allen Kontinenten und Staaten dieser Welt. Ich reise nach Australien, Kanada und Skandinavien, nach Japan, China und Rußland. Ich kenne diese Länder kaum, aber über ihre Funknetze weiß ich Bescheid, und überall, in beinah allen Sprachen und in fast jeder Region, reden die Menschen, die meine Hilfe brauchen, vom großen Problem.«
Der Mann blickte Rudi zornig an. Er schnaufte.»Problem, problemo, problema. Ob in Kamerun oder in der Mongolei, alle haben sie ein Problem. Ich kann es nicht mehr hören. Es bedeutet nirgendwo dasselbe. Es bedeutet nichts. Und alles zugleich. «Beim Fliegen, sagte der Texaner, habe er es zum ersten Mal verstanden, in ebenso einer Boeing wie dieser da, einer Maschine der britischen Fluggesellschaft. Plötzlich, mitten über dem Atlantik auf dem Rückflug nach Hause, habe der Pilot in jenem typisch nasalen Oxforder Akzent verkündet:»Ladies and gentlemen, we seem to have a problem«, und in dem Moment sei er, der Amerikaner, in Panik verfallen, habe er, der doch sein ganzes Leben nichts anderes tue, als Lösungen für Probleme zu finden, gedacht, sie würden gleich abstürzen. Und nicht nur er, sondern alle seine Landsleute waren in Angst geraten, hatten zu schreien begonnen, eine Frau neben ihm sei in Ohnmacht gefallen, und er selbst, er wisse nicht, wie er es sagen solle, er habe in die Hosen gemacht, weil er davon ausgegangen war, aus einer Höhe von Zigtausenden Meilen auf die Meeresoberfläche zu stürzen, ein Aufprall, den keiner überstehen würde, und wenn doch, dann nur, um im eisigen Wasser zu ersaufen. So groß war die Panik, daß die meisten von ihnen gar nicht hörten, was der Brite mit steifer Oberlippe noch hinzufügte:»I am terribly sorry, but I have to tell you that it's raining in New York. «Wenn ein amerikanischer Pilot von einem Problem gesprochen hätte, wäre mit dem Ende zu rechnen gewesen. Mit dem Absturz. Mit dem sicheren Tod. So laute, sagte er, der heimische Code. Die Piloten in den USA sprächen einen Jargon kontrollierter Coolness. Sie sagten:»Houston, we have a problem here«, ehe die Verbindung abbreche, die Maschine explodiere und sich der Punkt am Radarschirm in nichts auflöse.
Der Engländer damals im Cockpit, der terribly sorry gewesen war, ihnen vom schlechten Wetter berichten zu müssen, habe wohl nicht geahnt, was er mit seiner Formulierung auslöste. Sein Fauxpas war im übrigen von niemandem angesprochen worden, weil jene Frau, die in Ohnmacht gefallen war, alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie schnappte nach Luft und ächzte dabei schwer. Die Flugbegleiterinnen riefen nach einem Arzt, und zwei Passagiere meldeten sich. Ihm warf in der allgemeinen Aufregung niemand vor, sich angemacht zu haben. Aber seit jenem Vorfall auf dem Weg von London Heathrow zum Kennedy Airport erinnere er sich, wenn ihn, den Troubleshooter, jemand rufe, weil ein Problem vorliege, an die Panik, die ihn damals überwältigt hatte, an den Gestank der Angst. Denn es heiße gar nichts und alles mögliche, wenn irgendwo von einem Problem geredet werde, und wenn es zuweilen heiße, no problem, nema problema oder, wie in Israel, ejn beaja, dann könne man in manchen Ländern davon ausgehen, daß ohnehin bereits alles egal und verloren sei. Deshalb, obgleich er Rudi bei der Rettung seiner Festplatte noch viel Glück wünsche, denn das werde er wohl brauchen, müsse er ihn warnen. Er fixierte Rudi und preßte dabei beinahe unmerklich seine Schenkel zusammen. Er wolle, sagte der Amerikaner, nichts mehr von einem Problem hören. Nicht auf diesem Flug.