Rudi hielt sich daran und schwieg. Er hatte jetzt Zeit, noch einmal über alles nachzudenken, und als sie in Wien landeten, er an der Grenzkontrolle seinen österreichischen Paß vorwies und der Beamte ihn mit zünftigem Grant durchnickte, beschloß er, seine Drohung gegen Ethan wahr zu machen und einen neuen, einen dritten und endgültigen Nachruf zu schreiben.
Ethan hatte sich nicht umgeschaut. Er war einfach davongefahren. Kein Blick zurück. Bloß weg. Um Schadenfreude war es ihm nicht gegangen. Aber er freute sich, Rudi abgehängt zu haben. Er wollte fort von ihm, wollte mit diesem Möchtegernbruder nicht mehr im selben Wagen sitzen, der den Vater, nein, der seine beiden Väter — ja, beide, denn es waren nun einmal zwei — beschimpft hatte. Er wollte dieses Anhängsel aus Wien loswerden, seit langem schon. Nein, eigentlich von Anfang an.
Trotzdem hatte er jetzt ein schlechtes Gewissen. Felix würde im Tonfall des Anklägers fragen, wo er denn Rudi gelassen habe. Er sah Dina den Kopf schütteln, und Noa würde ihn fixieren, würde ihn niederstarren, um dann anzumerken, daß er wohl verrückt geworden sei, ihn fernab einer Busstation oder eines Cafes aus dem Auto zu werfen. Er versuchte, sich zu beruhigen. Wo waren denn die anderen gewesen? Wieso hatten sich Felix, Dina oder Noa nicht gekümmert, als Rudi gegangen war? Nein, er würde ihre Vorwürfe zurückweisen.
Kurz überlegte er, zurückzufahren, um Rudi doch wieder einzusammeln. Viel später sollte er sich fragen, was geschehen wäre, wenn er es gemacht hätte. Womöglich wären sie gemeinsam, im Schweigen, zu Dina und Felix gefahren. Abgekühlt, zumindest ernüchtert. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Sie hätten Felix umarmt, ihn beruhigt.
Aber er kehrte nicht um. Statt dessen schaltete er die Klimaanlage ein und tastete nach seinem Handy. Während er auf der Autobahn am Ayaion entlang in die Stadt fuhr, wählte er trotz der frühen Stunde die Nummer von Jael Steiner.
«Es sieht schlecht aus.«
«Was soll das heißen? Du warst doch froh, mich wieder hier zu haben.«
«Niemand zweifelt an deinen Qualifikationen. Es geht ums Geld. Um den Vertrag.«
«Also keine Erhöhung?«
«Schlimmer noch.«
Je länger er ihr zuhörte, um so stärker wurde sein Verdacht. Wollten sie ihn dafür bestrafen, daß er weggegangen war? Er sagte kein Wort. Er gab sich sogar einsichtig. Auf keinen Fall würde er betteln. Nein. Es gab nur eine adäquate Reaktion. Kälte. Sarkasmus.
«Schau, Jael, was soll ich sagen… Ich kann nicht behaupten, ich wäre enttäuscht. Eher bestätigt.«
«Komm, mach daraus keine persönliche Geschichte. Unsere Situation ist eng.«
«Ja, du weißt gar nicht, wie eng.«
Sie neideten ihm seine Weitläufigkeit. Sie nahmen ihm übel, daß er für seine Rückkehr auch noch eine Belohnung einforderte. Solange er weg gewesen war, hatten sie ihn mit Versprechungen gelockt, von der wechselseitigen Verbundenheit, von den Verpflichtungen füreinander und für das Land geredet.
Jael sagte:»Es tut mir leid. Glaube mir, es geht nicht gegen dich. Es trifft uns alle.«
«Nirgendwo fühle ich mich fremder als hier.«
«Wen wundert's, Ethan. Heimat ist, wo einem fremder zumute ist als an jedem anderen Ort.«
Er möge ihr, bat sie, in den nächsten Tagen Bescheid geben, wie er sich entschieden habe. Grußlos legte er auf und gab Gas. Er wollte schnell zu den Eltern, denn mit einemmal war ihm, als wären sie die einzigen, die ihn nie verraten hatten. Dieser Gedanke und ein kindliches Bedürfnis nach Zuwendung fraßen sich in ihm fest, vermengten sich mit seiner Müdigkeit und dem Hunger, den er plötzlich verspürte.
Jetzt tat ihm leid, wie heftig er mit Felix gestritten, wie erbarmungslos er ihn angegriffen hatte. Nicht nur in dieser vergangenen Nacht, sondern in all den Jahren, seit seiner Kindheit. Immer auf der Suche nach einem Makel. Er ließ sie spüren, wie sehr sie ihn mit ihrer Liebe und ihren Erwartungen verfolgten. Aber seit sein Vater so krank war, hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen geändert. Und zeigte Felix angesichts des nahen Todes nicht eine Gelassenheit und Duldsamkeit, wie er sie früher nie an ihm gekannt hatte?
Er hörte seine Mailbox ab. Rabbiner Berkowitsch hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. Ethan wollte auflegen, aber dann konnte er sich der eindringlichen Stimme wieder nicht entziehen.»Ich muß mit Ihnen reden, Herr Rosen. Ich kann verstehen, wenn Sie wütend auf mich sind. Es tut mir sehr leid. Zuerst meine Bitte, mir zu helfen, dann diese Neuigkeiten. Sie sind nicht der, für den wir Sie hielten und der Sie selbst zu sein glaubten. Ihre Mutter blamiert. Ihr Vater desavouiert. Ihre Familie zerrissen. Es tut mir sehr leid.«
So ist es, dachte Ethan, und lauschte weiter dem Rabbiner.
Berkowitsch sagte:»Herr Rosen, ich melde mich wegen der Niere bei Ihnen. Es geht Ihnen doch um Felix. Daran hat sich doch nichts geändert. Ich stehe nebbich in Ihrer Schuld. Ich brauche Felix Rosen, er ist der letzte Überlebende aus der engeren messianischen Familie. Ich brauche ihn, und er braucht mich. Rufen Sie mich an. Mit Gottes Hilfe werden wir eine Niere finden!«
An einer Ampel mußte er halten. Ein Bettler humpelte zwischen den Autos durch. Eine arabische Familie hastete die Straße entlang. Die Großmutter im bunten Gewand, die Enkelin in Jeans.
Ethan bog in die Straße ein, in der seine Eltern wohnten. Er hörte eine Sirene. Das Alarmsignal kam näher, und dann heulte es ganz dicht neben ihm. Ein Krankenwagen. Das Einsatzauto überholte ihn und preschte geradeaus weiter.
Noa begriff nicht, was sie hier tat, und noch Jahre später würde sie sich fragen, weshalb sie in jener Nacht bei den alten Rosens geblieben war. Dina hatte sie mehrmals aufgefordert, nach Hause zu gehen, aber sie war sitzen geblieben.»Geh. Worauf wartest du?«
Felix, soviel war klar, hätte die Versöhnung gebraucht. Der Sohn war verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Kein Trost. Noa hatte bemerkt, wie Felix innerlich verfallen war. Sein Blick war leer geworden, als Ethan und Rudi aus der Wohnung stürmten. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie nicht imstande war, die beiden Alten allein zu lassen. Sie hoffte, Felix und Dina würden durch ihre Anwesenheit ein wenig abgelenkt werden vom Streit mit den beiden Männern.
Dina sagte:»Du kannst hier niemandem helfen. Es ist gut, wenn wir jetzt alle zu Bett gehen. «Aber Noa blieb. Dina saß auf dem Sofa. Immer noch sah sie fern, aber ihr Kopf schwankte dabei wie eine Pappel im Wind. Immer aufs neue übermannte sie der Schlaf, doch die Unruhe ließ sie wieder auffahren. Im Fernsehen sangen und schunkelten immer noch die Gestalten aus fernen Zeiten.
Noa wurde von diesem Geistertanz angesteckt, auch sie blieb nur mit Mühe wach. Eben wollte sie sich aufraffen und endlich gehen, als Felix ins Zimmer taumelte. Einen Moment lang glaubte sie, eine Spukgestalt zu sehen, einen Untoten, so durchsichtig erschien er ihr. Felix fiel eher, als daß er ging, er stolperte von einem Schritt in den nächsten, schaffte es mit letzter Kraft noch bis zum Teppich, um dann vornüber auf das Sofa zu stürzen. Dabei war es, als würden sich Milchglasscheiben über den Blick legen, die Augen weit aufgesperrt, und er war nur Atemnot, Beklemmung, Todesangst. Felix hechelte, ein Schnappen, ein Keuchen, und leise hörte Noa, wie sich Worte aus ihm formten, aber sie verstand nicht, was er von sich gab, was mehr ein Tierlaut als ein menschlicher war und vielleicht schon nicht mehr bewußt gesagt wurde. Ihr schien, daß Felix nichts mehr hörte, nicht mehr Noas Fragen, nicht mehr die Schreie von Dina — »Felix, was ist! Felix, sag was!… Felix!«-, und daß er nicht mehr begriff, was um ihn passierte, wie Noa zum Telefon stürzte, die Notrufnummer wählte, wie sie den Krankenwagen rief, die Adresse schrie und:»Schnell! Er kriegt keine Luft. - Nein, nicht ansprechbar «und dann zurück zu ihm sprang, Dina zur Seite drängte, die ihm über den Kopf strich und die schlaffe Hand küßte, schnell weg, um den Bewußtlosen in die Seitenlage zu drehen und das eine Knie hochzuzerren. Aber der Körper rollte halb zurück auf den Bauch, worauf sie sich mit aller Macht dagegen stemmte, dann mit ihrer Hand den fremden Mund aufklappte, Knöpfe aufriß, während Dina hinter ihr jammerte:»Felix! Süssinker! Sei stark. «Noa richtete sich auf und streichelte sanft den Rücken des Mannes. Sie griff zum Handy und wählte seine Nummer. Ethan meldete sich.»Hallo?«