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Sie schrie:»Dein Vater!«

Er sagte:»Was denn?«

Aber sie nur:»Schnell. Der Krankenwagen ist schon da.«

Sie rannte zur Tür, um dem Notarzt und den Sanitätern aufzumachen. Sie schrien auf Felix ein, aber er antwortete nicht mehr. Sie drückten ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Sie versuchten, seinen Puls zu finden. Sie horchten ihn ab. Noa sah sie einen Defibrillator anlegen. Sie legten den Körper auf den Rücken, packten eine Kanüle aus, zogen eine Spritze auf und jagten ihm die Nadel in die Brust. In kurzer Zeit waren Sofa und Fußboden übersät mit Verpackungsfolien, Schläuchen und Plastikröhrchen. Dina stand nur da. Sie fuhr sich durch die Haare. Sie biß sich auf die Lippen. Sie schüttelte den Kopf. Sie schaute Noa an. Die nickte ganz langsam, als wollte sie sagen:»Das ist es. «Sie blickte, als wollte sie fragen:»Nicht wahr?«Aber Dina war verstummt.

Das Gesicht war aufgeschwemmt. Die Haut wurde fahler. Sein Atem pfiff. Er kämpfte um Luft. Es dauerte endlos, bis Arzt und Sanitäter die massige Gestalt auf das Rollbett gehoben hatten. Sie wollten ihn anpacken, aber er verkrampfte. Er wehrte sich gegen ihren Zugriff. Es war, als sperrten sich die einzelnen Gliedmaßen gegen jede Hilfe. Schwer machte er sich, und die Sanitäter schleppten ihn wie einen nassen Sack. Ehe sie die Tür erreichten, kam Ethan herein.

Er nickte Noa zu und umarmte Dina. Die Mutter schluchzte laut in seine Schulter. Noa weinte. Er fragte den Arzt, wohin sie den Vater nun brächten. Der Mediziner nannte das Krankenhaus. Es war nicht weit. Im Fernsehen sangen immer noch die schwarzweißen Schemen aus früheren Zeiten. Eine Frau hatte eine jiddische Weise angestimmt. Eine Ballade von Itzig Manger. Es ging um einen Jungen, der einem von allen Vögeln verlassenen Baum im Winter Gesellschaft leisten will, doch der Mantel, den die Mutter ihm aufdrängt, damit er nicht erfriere, macht ihm die Flügel zu schwer. Allein und einsam steht der Baum am Weg.

Sie schoben die Liege hinaus und in den Fahrstuhl. Dina sollte im Rettungswagen mitfahren. Ethan und Noa riefen den nächsten Aufzug. Sie fuhren ins Untergeschoß und rannten durch die Garage zum Auto. Ethan raste los. In der Ferne sahen sie die Ambulanz und das rotierende Blaulicht. Vor der Notaufnahme konnten sie nicht halten. Sie mußten erst zum Parkhaus.

Es dauerte, bis Ethan einen Platz gefunden hatte. Sie rannten zur Station. Dort stand Dina. Allein. Im Neonlicht wirkte sie noch blasser als sonst. Vater habe keinen Herzschlag mehr. Er sei im Behandlungszimmer. Er werde wiederbelebt. Alles, was möglich sei, werde versucht, habe man ihr gesagt.

Sie warteten.

Dann wurden sie in einen anderen Raum gebeten. Der Professor kam auf sie zu. Er schüttelte den Kopf. Dina schluchzte. Sie faßte sich an die Stirn, sie schlug sich mit der Faust gegen die Schläfen, immer wieder, und Noa umfing sie, fing sie auf. Beide Frauen standen da und wurden von einem Schütteln erfaßt. Ethan starrte reglos in die Luft. Erst als der Arzt, der Felix während der letzten Monate behandelt hatte, auf ihn zukam und ihn kurz umarmte, bemerkte er im Spiegel sein eigenes Gesicht, und da sah er, wie es ihm entgleiste, wie es sich verzerrte im Schmerz, und er kam nicht umhin zu denken, so also ist das.

10

Schöner tot sein

ein Baum werden

Vögel zu Gast haben

das wär was

worauf man sich freuen könnte.

Elfriede Gerstl, 1932 (Wien) bis 2009 (Wien)

Er hatte nicht damit gerechnet. Nicht, als der Arzt auf Vaters Brust einstach. Nicht, als sie ihn auf der Rettungsliege aus der Wohnung schoben. Nicht, als sie sagten, sein Herz stehe still. Felix Rosen, davon war Ethan überzeugt gewesen, würde nicht sterben. Selbst als der Professor es aussprach, verstand er nicht, was passiert war.

Sein eigenes und ihm fremdes Gesicht im Spiegel, als ihn der Arzt umarmte. Dort, hinter Glas, stand ein anderer und trauerte, während bei ihm die Todesnachricht noch nicht angekommen war. Oder anders. Er begriff zwar, daß Vater gestorben war, nicht aber, daß er mit ihm nicht mehr darüber würde reden können. Er verstand, daß Felix nichts mehr sagen konnte, nicht aber, daß er seinem Abba nie mehr würde widersprechen können. Im Grunde hatte er geglaubt, der Alte würde alles überleben, sogar das Sterben.

Dann lag er da. Wenn sie wollten, könnten sie sich noch von Felix verabschieden. Sie standen an dem Bett.

Sein Gesicht war wächsern. Der Körper zugedeckt. Die Füße lagen frei. Ethan stand reglos vor dem Leichnam. Er berührte vorsichtig die Schultet des Vaters, als fürchte er, ihn zu wecken. Dina suchte unter dem Laken nach Felix' Hand. Sie drückte ihm Küsse darauf. Noa streichelte ihm sachte die Stirn.

Was geschehen war, blieb unvorstellbar, auch wenn er es sich vom Arzt ein ums andere Mal erklären ließ. Er spürte diese Mattigkeit, die ihn daran hinderte, nachzuvollziehen, was ihm gesagt wurde. Er hörte zu und hörte die Wörter, aber er wußte nicht, was sie bedeuteten. Sein Verstand blieb lebendig, aber etwas in ihm war tot, war abgestorben und würde es von nun an bleiben.

Im Krankenhaus war nichts mehr zu tun. Sie kehrten mit Dina in die Wohnung zurück. Die Mutter ging durch die Zimmer, als schwebe sie. Überall stieß Ethan auf Felix. Sein Geruch lag in der Luft. Seine Kleider hingen in der Garderobe. Medikamente standen auf dem Küchentisch. Am schlimmsten aber war das Chaos rund um die Couch. Übriggebliebene Plastikteile. Die Verpackung der Injektionen. Ein Schlauch. Erbrochenes. Hier hatte Abba gelegen. Er zog den Überwurf vom Sofa und packte ihn ein, um ihn zur Reinigung zu bringen.

Die Mutter wollte alleine bleiben. Sie winkte ab. Sie drehte das Gesicht fort. Sie müsse sich nun sammeln. Vor allem sich ausruhen. Nein, sie brauche niemanden um sich. Nein, sie wolle nicht zu Ethan und Noa. Nein.

«Wir kommen am Abend wieder«, sagte Ethan. Als sie draußen waren, den Liftknopf gedrückt hatten und auf den Aufzug warteten, umarmte ihn Noa.

Sie fuhren in ihre Wohnung, warfen die Kleider auf den Boden und fielen ins Bett. Noa schlief sofort ein. Ethan lag wach. Das Licht schien ihm heller und gleißender als sonst. Sein Mobiltelefon läutete. Er schlich aus dem Schlafzimmer, um sie nicht zu wecken. Es war Rabbiner Berkowitsch.

Er sprudelte los:»Ethan, es ist mir sehr unangenehm.«

«Es ist nicht mehr wichtig, Rav Berkowitsch.«

«Ethan. Hören Sie mir zu. Ich kann verstehen, wenn Sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.«

«Felix Rosen…«, wollte Ethan sagen, aber der Rabbiner unterbrach ihn:»… ist unsere einzige Chance. Felix Rosen ist der letzte. Der allerletzte. Er ist der einzige Überlebende, der uns noch helfen kann. Wir brauchen ihn.«

«Zu spät, Rav Berkowitsch.«

«Warum? Ich werde eine Niere für ihn finden!«

«Es geht nicht.«

«Diesen Satz gibt es für mich nicht. Nicht die Mörder, nicht meine rabbinischen Kollegen, nicht staatliche Gesetze werden mich aufhalten. Niemand. Hören Sie? Sonst hätte alles keinen Sinn. Ich glaube! Begreifen Sie überhaupt, was das heißt? Haben Sie denn überhaupt eine Ahnung davon? Glauben! Das ist keine Annahme, nicht Hoffnung, nicht Gewißheit, das ist mein Los. Meine Losung. Mein Leben! Ich werde nicht aufgeben. Heute können wir aus den Zellen eines alten Menschen neues Leben schaffen. Es gibt Methoden, Felix Rosen sogar wieder zeugungsfähig zu machen. Ich werde eine Niere für ihn finden. Ich habe aussichtslosere Situationen durchgestanden!«Er atmete durch.»Wieso sagen Sie nichts?«