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Der Institutsvorstand verstummte. Er brauchte einige Zeit, bis er wieder sprechen konnte, fragte aber nicht mehr nach, sondern bot ihm einen Termin an, um über eine Anstellung zu verhandeln.

Kaum hatte Rudi den Hörer aufgelegt, klingelte sein Mobiltelefon. Er war sich sicher, daß es der erwartete Anruf des Redakteurs war, und hob ab, ohne auf das Display zu schauen:»Hier Klausinger.«

«Hallo Rudi, hier spricht Ethan.«

Schweigen. Er überlegte, das Gespräch sofort wegzudrücken.

«Leg nicht auf. Hör zu.«

«Warum sollte ich?

«Es geht um Vater.«

«Was hab ich mit ihm zu tun?«

Ethan wollte antworten, aber Rudi fiel ihm ins Wort. Während der eine flüsterte:»Felix ist gestorben«, brüllte gleichzeitig der andere:»Felix ist gestorben für mich.«

«Nein, nicht deinetwegen. Du bist nicht schuld«, sagte Ethan.

«Woran bin ich nicht schuld?«

«An seinem Tod.«

«Was?«

«Ja.«

«Was: Ja?«

«Vater ist nicht mehr.«

«Nein!«Rudi stürzte nach hinten in den Sessel, und wieder sein» Nein!«, ein ums andere Mal. Dann schwiegen sie einander an.»Wieso denn?«

«Herzstillstand. In jener Nacht. Als du weg bist.«

«Nein!«

Rudi stand auf. Er ging im Zimmer umher. Ethan hörte die Schritte. Rudi redete vor sich hin. Er könne es nicht glauben. Felix sei so unverwüstlich gewesen. Er habe doch noch vor kurzem…

Ethan sagte:»Er wird morgen begraben. Aber wir wollen allen ermöglichen, auch aus dem Ausland anzureisen.«

«Natürlich.«

«Es wäre schön.«

«Ja…«

«Es hätte ihm viel bedeutet.«

Rudi dachte an den Artikel.

Ethan sagte:»Für ihn warst du ein Sohn.«

Rudi seufzte:»Na, ja…«

Ethan fuhr ihn an:»Hör auf mit dem Blödsinn. «Und dann:»Ich will deinen Namen in der Todesanzeige nennen. Für die Zeitung. In Ordnung?«

«Klar.«

«Es geht nicht um Vererbung. Willst du für ihn nicht Schiwe sitzen?«Er müsse sich schnell entscheiden, sagte Ethan. Er nannte den Termin für die Bestattung. Noch sei Zeit, den Flug zu buchen.

Rudi saß völlig ermattet vor dem Schreibtisch. Minutenlang. Sollte er nach Tel Aviv oder nicht? Plötzlich fiel ihm der Artikel ein. Er durfte jetzt auf keinen Fall erscheinen. Nicht mehr nach dem Tod von Felix Rosen. Er rannte zum Telefon und wählte die Nummer des Redakteurs.

«Es geht um meinen Artikel. Es ist etwas Schreckliches geschehen.«

«Starkes Stück. Haut rein. Besonders im Zusammenhang mit der Todesanzeige. Mein Beileid übrigens.«

«Welche Todesanzeige?«

«Ich dachte, das wissen Sie. Ihr Name ist drauf. Ethan Rosen rief vorhin an. Das Inserat für seinen Vater.«

«Bei Ihnen im Blatt?«

«Ja. Morgen. Keine Sorge: Das erscheint. Gute Idee, die Anzeige auch dort zu schalten, wo er geboren und von wo er vertrieben wurde und wo er später wieder lebte. - Und danke für Ihren Beitrag. Wirklich ein starkes Stück. Bin gespannt, wie das ankommt.«

«Aber mein Text steht doch in krassem Widerspruch zur Traueranzeige. Er ist tot. Verstehen Sie?«

«Das ist mir nicht entgangen. Lesen kann ich. Sehr subtil. Gerade diese Ambivalenz. Wer kennt das nicht?«

«Aber müssen Sie nicht kürzen — und entschärfen?

«Ohne den Todesfall hätte ich Ihren Artikel gar nicht veröffentlicht. Keine Aktualität. Und viel zu lang. Aber so. Starkes Stück!«

«Mein Text darf nicht erscheinen.«

«Was? Sind Sie verrückt?«

«Es geht nicht. Ich ziehe ihn zurück.«

«Zu spät. Er ist schon in Produktion.«

«Ich untersage Ihnen, den Artikel unter meinem Namen abzudrucken.«

«Aber unter welchem Namen denn sonst?«

«Sie müssen die Maschinen stoppen!«

«Unmöglich. In wenigen Stunden können Sie die Zeitung auf der Straße kaufen. - Da läßt sich nichts mehr ändern.«

«Aber die späteren Ausgaben?«

«Ich kann doch nicht einen doppelseitigen Text verschwinden lassen. Wie stellen Sie sich das vor? Sollen wir alles einschwärzen? Spielen wir Metternich?«

«Es ist immer noch mein Kommentar. Meiner!«

«Ja, eben. Und als solcher wird er auf der Titelseite angekündigt und erscheint er im Blatt. Keine Angst. Ihr Name ist hervorgehoben«, sagte der Journalist. Rudi sah ein, daß es aussichtslos war. Es war nicht mehr ungeschehen zu machen. Er seufzte, und vielleicht tat er in diesem Moment dem Redakteur Fred Sammler leid, denn der sagte:»Wir könnten Sie für die Ausgabe morgen früh aus der Todesanzeige tilgen. Wäre Ihnen das recht? Wenn Sie der Widerspruch so stört, dann weg damit. Wollen die Leser dann einen Zusammenhang erkennen zwischen jenem Felix Rosen in Ihrem Text und dem in der Annonce, müssen sie Ihre Geschichte schon komplett lesen. Jetzt hingegen steht Ihr Name fett unter dem Titel und in der Parte. Das fällt natürlich auf. Was denken Sie?«

Rudi schwieg. Sollte er sich aus der Traueranzeige davonstehlen und Felix' gar nicht mehr gedenken?» Nein«, antwortete er entschieden.

Vielleicht buchte er nicht trotz, sondern wegen seines Artikels den Flug nach Israel. Er wollte zum Friedhof und danach Schiwe sitzen. Was aber, wenn es während der Bestattungszeremonie zum Eklat käme? Was, wenn irgendein Gast ihn auf seinen Aufsatz anspräche? Hoffentlich hatten wenigstens die Rosens seinen Artikel noch nicht zu Gesicht bekommen.

Wenige Stunden später wußte er: Der Wunsch, sein Beitrag könnte übersehen werden, war naiv gewesen. Gerade der persönliche Teil der Geschichte interessierte am meisten. Daß er einerseits erklärte, er vermisse Felix Rosen nicht und wolle mit ihm nichts mehr zu tun haben, und zugleich verkündete, er werde ihn niemals vergessen, wurde geradezu als Skandal empfunden.

Zunächst sah er sich die Zeitung im Internet an. Um seinen Artikel tobte eine wilde Debatte. Die Postergemeinde kochte. Er wurde beschimpft, denunziert und verhöhnt. Die einen sahen in ihm einen verkappten Antisemiten, die anderen einen Pseudo-Juden, und während er manchen zu jüdisch schien, war er es vielen wiederum zu wenig. Einige warfen ihm vor, er rede der Beschönigung der Vergangenheit das Wort, aber nicht wenige lobten ihn eben deshalb, und er wußte nicht, was ihn schlimmer traf.

Auf der Homepage der Zeitung waren jene Artikel angeführt, welche die meisten Postings provoziert hatten. Seiner kletterte in kurzer Zeit an die Spitze. Einer, der sich Mario Nette nannte, lästerte über ihn persönlich. Er kenne ihn noch aus Studienzeiten. Rudi Klausinger sei immer schon ein Denunziant gewesen. Er habe am Institut in jedem einen Faschisten gewittert. Rudi verfolgte mit, wie eine Verleumdung die nächste nach sich zog.

Mittlerweile hieß es, er stamme aus einer Nazifamilie und sei bereits öfter mit antijüdischen Attacken aufgefallen, während die andere Partei meinte, er sei vielmehr das Musterbeispiel jüdischen Selbsthasses. Schon war eine Einigung zwischen beiden Gruppen — und zwar auf seine Kosten — in Sicht, als er beschloß, die Wohnung zu verlassen und die Druckausgabe zu kaufen.

Felix und ihm war eine Doppelseite gewidmet. Links war das Foto von Rosen und rechts sein eigenes zu sehen. Der Alte sah freundlich drein. Seine Aufnahme stammte hingegen von einer Universitätsveranstaltung, während deren er einem Nachbarn gerade etwas spöttisch zuflüsterte. Es sah aus, als ekle er sich vor Felix.

Sein Mobiltelefon klingelte. Ein alter Freund erkundigte sich, ob es ihm gutgehe, aber schon die Frage klang wie ein Vorwurf, als zweifle der andere an Rudis Verstand:»Geht es dir eigentlich noch gut?«Und eben, da Rudi nicht mehr glaubte, der andere habe ihn wegen seines Kommentars angerufen, begann der davon zu sprechen. Zaghaft. Besorgt. Verwirrt. Er murmelte:»Mein Beileid, wenn ich das überhaupt so sagen darf. «Und dann:»Ich muß sagen, du bist ganz schön…«, das Zögern, die Suche nach dem richtigen Wort und dann:»… mutig.«