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Am nächsten Tag in der Früh rief ihn die Kulturredakteurin einer angesehenen deutschen Tageszeitung an.»Lieber Herr Klausinger, ich wollte fragen, ob Sie bereit wären, Ihren Beitrag, den Sie gestern in Osterreich veröffentlichten, bei uns weiter zuzuspitzen.«

«War er nicht scharf genug?«

Die Redakteurin bot ihm an, in ihrem Blatt noch einmal nachzufassen und einiges richtigzustellen. Aber Rudi wollte nicht. Er trauere um Felix Rosen. Er könne sich nicht mehr äußern. Am liebsten wäre ihm, die Angelegenheit würde wieder vergessen.

«Herr Klausinger, ich fürchte, dafür ist es zu spät. «Der Artikel sei auf den deutschen Medienseiten im Internet verlinkt. Blogger aus dem ganzen deutschsprachigen Raum und auch in Israel hätten bereits Stellung genommen. Er dürfe nicht übersehen, daß Felix Rosen der Vater des renommierten Wissenschaftlers Ethan Rosen sei, dessen Bücher sehr viel Anerkennung fänden und dessen Theorien Aufsehen erregt hatten. Und Felix Rosen sei ein Überlebender gewesen, das komme noch hinzu. Er sei in den Brennpunkt einer neuen Debatte geraten.»Ich gratuliere, Herr Klausinger. Das ist ein starkes Stück!«

Es meldeten sich eine weitere deutsche und eine österreichische Zeitung, die jeweils um ein Interview baten, und ein Privatsender plante eine Talkshow mit dem Titeclass="underline" Stirbt Auschwitz? Was bleibt von der Erinnerung, wenn die Überlebenden nicht mehr überleben?

Rudi hörte nicht mehr zu. Zuletzt erreichte ihn noch der Satz, den die Fernsehredakteurin wie nebenbei gesagt hatte.»Mit Ethan Rosen habe ich bereits gesprochen. «Er habe zugesagt. Er stehe für ein Gespräch zur Verfügung, wenn auch Rudi daran teilnehme. Über Satellitenschaltung. Sie sagte:»Ich habe ihm den Artikel geschickt.«

Nein, sagte Rudi, er werde sich nicht mehr äußern. Er könne nicht. Er legte auf und schaltete das Gerät ab. Wenn er nach Israel aufbrechen wollte, mußte er jetzt zum Flughafen fahren, aber er saß in seinem Zimmer, fertig zum Aufbruch und unfähig, ein Taxi zu rufen. Er würde in Wien bleiben. Die anderen würden ihm vorwerfen, Felix verraten zu haben; zu Recht. Er hatte ihn denunziert, ihn bloßgestellt, hatte herausposaunt, daß er nicht sein und auch nicht Ethans Vater war. Aber vielleicht war für die Leser die Wahrheit gar nicht klar zu sehen? Immerhin stand der Text im Widerspruch zur Traueranzeige.

Er saß vor dem gepackten Koffer, das Ticket in der zittrigen Hand. Er war übernächtigt. Er beschloß, die Schuhe anzuziehen und den Mantel überzustreifen. Er ging zur Garderobe. Langsam band er die Schnürsenkel, als handle es sich dabei um eine Arbeit, die höchste Konzentration erfordere. Er benahm sich wie ein Sprengstoffexperte, der eine Mine entschärfte. Kein falscher Handgriff. Als Rudi mit den Schuhbändern fertig war, setzte er sich wieder aufs Sofa. Er sah auf die Uhr. Wenn er nach Israel wollte, mußte er zumindest zwei Stunden vor Abflug am Flughafen sein. Das Taxi brauchte eine halbe Stunde nach Schwechat. Wenn er es jetzt nicht bestellte, würde die Maschine ohne ihn abheben. Er blieb hocken und griff zum Telefon. Der Institutsvorsitzende meldete sich:»Hier Marker.«

«Guten Tag, Herr Professor. Hier spricht Klausinger. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich erst nächste Woche zu Ihnen kommen kann.«

«Ich habe Ihren Artikel heute gelesen.«

«Ja?«

«Spannend. Beinahe verstörend. Insbesondere durch die Todesanzeige. Der Widerspruch.«

«Das ist kein Widerspruch. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

«So? Auf jeden Fall spannend. «Es war ein Zögern in Markers Stimme.»Wie Sie sich mit Identitätsfragen und ihrer eigenen Herkunft auseinandersetzen, ist interessant. «Wie merkwürdig. Offenbar war er in den Augen des renommierten Wissenschaftlers ausgerechnet durch seine Provokation zum Experten geworden. Marker fragte:»Sie wollen wohl zum Begräbnis?«Er wartete die Antwort erst gar nicht ab:»Ich vergaß ganz, Ihnen mein Beileid auszusprechen.«

In diesem Moment schluchzte Rudi los, und er war unfähig, Marker zu antworten, konnte nicht einmal mehr danken für die Worte der Anteilnahme. Etwas überwältigte ihn, er wußte nicht mehr weiter und verabschiedete sich stammelnd. Als der andere aufgelegt hatte, weinte Rudi haltlos um jenen Mann, den er einige Tage dafür geliebt hatte, sein Vater zu sein, und den er zuletzt dafür gehaßt hatte, es nicht zu sein. Plötzlich wurde ihm klar, daß er jetzt um seinen Vater trauerte. Mit Felix Rosen war sein Vater gestorben, mit seinem Tod war die Suche vorbei, wer immer Felix Rosen und wer immer sein Erzeuger gewesen sein mochte.

Sie trafen einander am Eingang. Umarmungen. Die ganze Familie war versammelt. Onkel Jossef und Tante Rachel preßten Ethan an sich. Nimrod Karni, der Werftbesitzer, nickte allen von oben zu. Jaffa, seine Frau, fiel den Verwandten und Freunden um so überschwenglicher um den Hals. Sie weinte lauter als Dina. Ethan sah noch sonnenverbrannter aus als sonst. Er schaffte es, rot und blaß zugleich zu wirken. Er hielt sich an Noa fest, während sie sich an ihn lehnte. Mit Felix' Tod war auch das Spielerische zwischen ihnen zu Ende. Nie wieder sollte sie ihn Johann Rossauer nennen. Sie standen unweit des Leichnams, der unter einem schwarzen Tuch auf der Bahre lag. Sie stützten einander. Dina war die einzige, die Haltung bewahrte und Fassung.

Selbst der abgemusterte Soldat Schmuel, der einige Zeit in Indien verbracht hatte, war da. Neben ihm die Eltern, seine Schwester, die mit ihrem Mann und dem wenige Wochen alten Säugling erschienen war, um Felix die letzte Ehre zu erweisen, weswegen einige schon insgeheim meinten, dieser Teil der Familie sei ein wenig überrepräsentiert. Das Neugeborene hing in einem Sack vor dem Bauch der Mutter. Nur sein Haarschopf schaute wie das Federwerk eines Staubwedels hervor.

Der Säugling hieß Noam. Jossef nickte den jungen Eltern zu und sagte:»Wenn er einmal groß ist, muß er nicht mehr in die Armee. «Das war sein Standardsatz, den er seit Jahrzehnten, seit der Gründung Israels, an der Krippe jedes Säuglings wiederholte, und Jossef war glücklich, ihn heute wieder anbringen zu können:»Ja, wenn der Kleine einmal groß ist, wird ihm die Armee erspart bleiben.«

«Klar wird er nicht mehr zum Militär müssen«, sagte Schmuel,»weil es dann keinen Staat mehr geben wird.«

Irgend jemand murmelte etwas von Selbsthaß. Ethan mußte grinsen, und Noa war froh, durch das kleine Scharmützel kurz vom Schmerz und der Trauer abgelenkt zu sein.

Auf der anderen Seite stand ein Mann in orthodoxer Kleidung, um ihn herum seine zehn Söhne. Allesamt mit Schläfenlocken. Sie gehörten zu Efrat, die sich bei den Frauen aufhielt, eine entfernte Verwandte des Vaters. Sie war die einzige, die hier eine Perücke trug, einen dicken Rock und Strumpfhosen. Viel zu heiß für das Wetter. Als Kinder hatten Efrat und Ethan die ersten Doktorspiele miteinander veranstaltet, hatten einander gezeigt, wie es bei ihnen dort unten aussah, um danach Vater und Mutter zu spielen. Sie hatten sich auf die Couch gelegt und so getan, als zeugten sie Kinder. Später, als Siebzehnjährige, war Efrat, schlank, blond, nur im Minirock umhergezogen. Sie interessierte sich für Kunst und Theater, studierte Ausdruckstanz und Schauspiel, um bald zum Jungstar eines modernen Ensembles aufzusteigen und ihren Verdienst als Model auf dem Laufsteg ein wenig aufzubessern. Es waren heiße Sommer. Wenn Ethan sie traf, schwärmte sie ihm vor, was für ein vielseitiges und offenes Land Israel doch sei. Warum er sich im Ausland herumtreibe, wenn in diesem Staat doch nichts von dem fehle, was er andernorts suche.

Wenige Jahre später hatte sie sich verliebt: in einen Elitepiloten der Armee, einen wilden Kerl mit langen Haaren und linken Ansichten, der immer in zerrissenen Jeans umherlief und mit einer Rockband auftrat. Erst nach der Hochzeit stellte sich heraus, daß er unter den Einfluß eines Rabbiners geraten war, der ihm, dem Flieger, erklärte, es gebe einen Weg, auch dann nicht vom Himmel zu fallen, wenn die Maschine abstürze. Als er ein wenig später in frommer Montur, mit Pejes und Kaftan, zum regelmäßigen Training im Flugsimulator auftauchte, öffnete der diensthabende Wachposten nur kurz die Tür, um ihn mit den Worten abzuweisen:»Tut mir leid, aber wir geben nichts!«Das war das Ende der Karriere dieses jungen Mannes, der eigentlich hoch hinauswollte. Auch die Rockband hatte sich längst aufgelöst. In seinem Kaftan stand er da, ein dürrer Mann mit traurigem Vollbart, umringt von seinen zehn Kindern und im Blickkontakt mit Efrat, die sehr dick geworden war.