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Zu Hause angekommen, setzte er sich an den Schreibtisch, um Klausinger zu antworten. Er wartete auf jene Spannung, die ihn sonst überfiel, aber obwohl er voller Wut, sogar Haß war, verfestigten sich seine Gedanken nicht, fing er immer wieder von vorn an.

«Überfahr ihn«, hatte seine Mutter in den ersten Jahren in Wien immer gesagt, wenn der Vater für einen älteren Herrn an der Kreuzung bremste.»Dros oto«, das war ihre Parole gewesen, und er, der Junge, hatte voll Begeisterung mitgeschrien.»Dros oto«, gemeinsam mit seiner Ima:»Überfahr ihn. Er ist alt genug. Schau ihn dir an. So haben sie doch ausgesehen. Überfahr ihn«, und sein Vater, dem Lager entronnen, der die ganze Familie verloren hatte, lachte nur, lachte den Fußgänger an, wies ihm mit offener Hand den Weg und sagte:»Das nächste Mal, Liebste, das nächste Mal.«

Nach fünfzehn Minuten löschte er alles, was er bisher formuliert hatte. Was er in Wien sagte, mußte in Tel Aviv falsch klingen und umgekehrt. Nichts schien mehr stimmig, Klausinger würde auf jeden Fall recht behalten. Er klappte den Rechner zu.

Als Esther anrief, um ihn an ihr Open House zu erinnern, beschloß er, die Arbeit seinzulassen. Er duschte, zog sich an und ging zum Auto. Der Motor verstotterte sich dreimal, ehe er doch noch ansprang. In diesem Moment klingelte das Mobiltelefon. Seine Mutter hatte ihn endlich erreicht.

«Was soll ich dir sagen, Ethan? Meine Niere, ich meine, seine Niere, jedenfalls die, die er von mir hat, arbeitet nicht mehr. Abba hängt wieder an der Dialyse. Ich habe Angst. «Sie sprach nicht weiter.

«Warum habt ihr mich nicht eher benachrichtigt?«

«Das Beste wäre eine neue Niere«, antwortete sie.

Esther wohnte jenseits des Stromes und unweit der alten Donau. Eine Siedlung aus Einfamilienhäusern am Rand der Stadt. Ihre Tochter Sandra öffnete ihm die Tür.»Hei, Ethan. «Er umarmte die Siebzehnjährige, streifte die Jacke ab, als Esther mit einem vollbeladenen Tablett aus der Küche kam.»Ethan, wie schön, daß du da bist«, rief sie, als hätte sie nicht erst vor dreißig Minuten mit ihm telefoniert. Sie reichte Sandra die Obstschüsseln weiter:»Da, bitte bring das hinein«, und drückte ihm einen Kuß auf die Wange, der nicht weniger fruchtig wirkte als die Pfirsiche und Pflaumen auf dem Tablett. Ein wenig von dieser knackig reifen Frische hatte auch ihr Gesicht, und er erinnerte sich an eine jiddische Liedzeile, beckelach wie kleinepomeranzen, fisselech was beten sich zum tanzen, so strahlte sie ihn an.

Es war wie immer. Das Haus voller Leute, die Rotwein aus Plastikbechern tranken und Salate und Aufstriche von Papptellern aßen. Er kannte die meisten, die sich angeregt unterhielten, die einander die neuen Varianten alter Witze erzählten und von den jüngsten Verhältnissen in vertrauten Beziehungen flüsterten. Im Eßzimmer stieß er auf einige Israelis, die mit bitterem Spott über die eigene Regierung herzogen. In der Küche gemeinschaftliches Kochen, orientalische Salate, Babaganusch und Tehina. In einer Ecke hackte Arnos Stein eine Tomate:»Hallo, Ethan. «Sein Erscheinen erregte Aufsehen. Neben dem Treppenaufgang zwei Männer und eine Frau, die sich auf hebräisch über eine Inszenierung an der Wiener Oper unterhielten. Ethan wurde von Michael mit einem Lächeln begrüßt, einem Psychologen aus Haifa, der in Wien ein Geschäft für Jazzmusik betrieb und nebenbei sein Geld mit dem Verkauf von Versicherungspolicen verdiente. Et sprach mit einer Modedesignerin, ihr Kleid und ihre Worte ein einziges Fließen, ihre Stimme seidiger als die Gewänder, die sie nähte. Im Salon lümmelten zwei Frauen auf dem Sofa und tuschelten. Die eine blickte sich um, und die andere sagte:»Keine Sorge. Er ist in der Küche.«

Vor dem kahlen Steinkamin kauerte Mickey Scheffler. Seine Eltern waren Juden kommunistischen Glaubens gewesen. In Kommunen und Kadergruppen hatte er gegen sie rebelliert, doch seit auch die Neue Linke recht alt aussah, sehnte er sich nach jener Abstammung, von der schon seine Urgroßeltern nichts hatten wissen wollen. Ethan zog sich in den Vorraum zurück. Die Historikerin Sonja Winkler grüßte ihn:»Hellou, wie geht es dir? Dich kann man ja seit neuestem zweifach lesen. Pro und contra.«

«Dieser Klausnitzer ist ein Nazi«, so Peppi Golden, ein pensionierter Kunstschmied, der die Verfolgung als Kleinkind im Keller überlebt hatte. Die nichtjüdische Mutter hatte ihm zweimal das Leben geschenkt, ihm und seinem Zwilling, mit dem er Monate in einem Bettchen hinter einem Verschlag versteckt war und den er seit einigen Jahren nicht mehr sehen wollte. Er haßte seinen Bruder, diesen, wie er den Alkoholiker nannte, hochprozentig Überflüssigen, mit dem er der Vernichtung entronnen war und neben dem er im Sechstagekrieg gekämpft hatte. Er stritt mit ihm vor Gericht um das Erbe der Großeltern, um die Häuser, die, einst der Familie geraubt, den Geschwistern vor wenigen Jahren restituiert worden waren. Er konnte nicht recht sagen, warum, aber wenn sie länger als fünf Minuten in einem Raum zubrachten, endete es immer in Geschrei und manchmal mit Ohrfeigen.»Er heißt Klausinger.«

«Er hat kein Recht, so über Dov zu schreiben. Gut, daß du ihm geantwortet hast. Nur war es blöd, ihm Antisemitismus vorzuwerfen.«

«Das habe ich nicht.«

«Ich weiß. Reg dich ab. Ich stimme dir ja ohnehin zu. «Lydia Frank fragte Peppi, welchem von Ethans Texten er zustimme.

«Beiden«, mischte Michael sich ein:»Ich sehe da überhaupt keinen Widerspruch. Was, wenn die Artikel die beiden Seiten einer Medaille sind? Was, wenn ich mich nur in diesem Zwiespalt zu Hause fühle? Was, wenn wir alle hier heute abend nur deshalb zusammengekommen sind, weil wir in dieser Kluft leben?«

«Unsinn«, sagte Lydia. Sie wohne in keiner Kluft, sondern in einer Währinger Wohnung. Sie könnten, fuhr sie fort, Klausinger nicht verbieten, Dov ebenso kritisch zu betrachten, wie sie selbst es taten.

«Er ist ein Nazi«, schrie Peppi Golden.

«So ein Scheiß. Er hat Dov nicht vertrieben.«

«Er hätte es getan!«

Ethan wollte zuschauen, zuhören, wollte schweigen. Hier redeten sie von ihm, redeten von den Dingen, die ihn bereits seit Tagen quälten, und nun, da die anderen über ihn stritten, als wäre er gar nicht da, regte er sich nicht mehr auf über die Situation, in die er geraten war.

Wieso, fragte Lydia, gelte ein Israeli als Linker, wenn er eine bestimmte Meinung vertrete, und ein Österreicher als Nazi, wenn er dieselbe äußere.

Sonja klaubte ein paar Sonnenblumenkerne aus einer Schüssel, knackte mit ihren Zähnen die Schalen, während sie auf Ethan zuschlich. Er möge ihr erklären, wieso er jemanden, der seinen eigenen Artikel zitiere, so heftig angreife. Habe er denn seinen Text nicht wiedererkannt? Wolle er ihr das weismachen?

Ethan lächelte und zuckte die Achseln. Michael meinte, auf hebräisch und in Israel klinge jedes Wort eben anders als auf deutsch und in Österreich. Ethan habe seine eigenen Zeilen nicht wiedererkannt, weil sie nicht mehr die seinen gewesen seien. Im anderen Kontext sei ihre Bedeutung ins Gegenteil verkehrt worden. Er begreife übrigens gar nicht, woher das Mißtrauen gegen den gemeinsamen Freund stamme. Wer glaube denn, Ethan habe absichtlich gelogen?

«Er ist ein Lügner. «Aus dem Dunkeln kam eine weibliche Stimme. Jetzt erst bemerkte Ethan die Frau, die in einem Ohrensessel saß, der Runde halb abgewandt. Nur ihre Unterschenkel waren zu sehen, schlank und braungebrannt. Sie baumelten über die Armlehne. Das Timbre ihrer Stimme erinnerte ihn an jemanden, doch wußte er nicht, an wen, bis sich die Fremde aus dem Fauteuil schälte und er Noa Levy erkannte, der er im Flugzeug begegnet war. Er verspürte eine merkwürdige Freude, sie wiederzusehen.

«Er lebt vom Wechsel der Identitäten. Jedem anderen wäre zuzutrauen, daß er die eigenen Texte nicht wiedererkennt. Aber Ethan? Ethan doch nicht. Kulturbrüche. Das ist doch sein Metier. Das ist seine Domäne. Es ist geradezu seine Spezialität, von einem Zusammenhang in den anderen zu springen. Redet er nicht ununterbrochen davon? Über — wie nennt er es? — Perzeptionen. Die wechselseitige Übersetzung von Ideen und Thesen, das ist sein Thema. Von ihm heißt es doch, daß er immer präsent hat, was hier und da und dort gedacht und formuliert wurde. Und ausgerechnet er soll den Überblick verloren haben? Er ist ein Lügner.«