Выбрать главу

Die anderen widersprachen ihr, aber so zaghaft, als wollten sie ihr eigentlich zustimmen. Jetzt übertreibe sie, wandte Lydia ein, Ethan sei doch kein Betrüger, jedenfalls nicht bewußt.

Michael bezog für ihn Stellung. Woher Noa denn Ethan so gut zu kennen glaube? Wieso sie so sicher sei, daß er gelogen habe?

«Weil er vor mir schon einmal mit falschem Namen und falscher Biographie aufgetreten ist. Er hat sich verleugnet. Wollte mich täuschen. «Sie sprach sehr laut. Die anderen wurden aufmerksam, scharten sich um die kleine Gruppe. Unter ihnen auch Esther und ihr Mann.

«Das stimmt so nicht. Das war doch etwas ganz anderes«, sagte Ethan.

«Er hat sich als Rossauer vorgestellt. Als Adolf Rossauer.«

«Also bitte, es war wirklich nicht Adolf, sondern Johann. Johann Rossauer.«

«Dann stimmt es also doch«, sagte Michael.

«Johann Rossauer? Was Besseres ist dir nicht eingefallen?«fragte Peppi Golden.

«Johann Rossauer, ein Österreicher, der sich von mir alles über Israel und das Judentum erzählen ließ.«

Sie taten alle ein wenig erstaunt, nur Lydia wechselte ihre Position und schmunzelte:»Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

Noa meinte, Lydia könne ruhig an solchen Schwindeleien Gefallen finden, warum auch nicht, nur solle ihr niemand erzählen, Ethan habe sein eigenes Zitat nicht erkannt. Die ganzen Schmonzetten über Kohn und Kontext, Jiddn und Identität seien lächerlich. Es sei die reine Bosheit gewesen, Klausinger zum Antisemiten zu stempeln.

«Zeige mir, wo ich das getan habe. Und wozu? Ich kannte ihn gar nicht.«

«Genau. Du kanntest ihn gar nicht. Du brauchtest diesen Klausinger gar nicht zu kennen, um ihn anzugreifen, weil du alle Klausingers ohnehin schon zu kennen glaubst. Ich saß neben Ethan, als er den Artikel las. Im Flugzeug. Als er mir vorspielte, einer dieser Klausingers oder Rossauers zu sein. Er ließ mich von Israel erzählen, als hätte er keine Ahnung. Da war mir schon klar, daß er von beiden Seiten mehr weiß, als ihm lieb ist. Sein Verständnis für den jeweils anderen ist in Wirklichkeit nichts als Verachtung.«

Ethan antwortete nicht. Die anderen schwiegen, bis Michael endlich sagte:»Du hättest vielleicht einfach einen Nachruf auf Dov schreiben sollen.«

Ethan wandte sich ab und ging in die Bibliothek. Er war hungrig und durstig, aber er hatte keine Lust, sich zu den anderen in die Küche zu stellen oder ans Buffet. Er strich an den Büchern entlang. Er war allein und dachte an Dov. Und er sorgte sich mehr und mehr um seinen Vater.

Als Noa die Bibliothek betrat, schwiegen sie beide. Sie ging auf ihn zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sie stellte sich vor ihm auf. Er stand im Eck der Regalwände, wich ihr nicht aus. Unverwandt sahen sie einander an, bis er flüsterte:»Dov Zedek ist tot. Was willst du noch von mir?«

«Sei einfach Johann für mich«, antwortete sie.»Was, wenn wir wieder Noa und Johann sind? Laß die Toten ruhen. Sei jetzt bloß Johann.«

Er schwieg, lächelte matt.»Wer sonst?«

«Gut. Ich habe dir eine israelische Spezialität mitgebracht. Du mußt hungrig sein. Burekas. Das essen wir in Israel, Johann. Auf der Straße. Probier mal.«

Ehe er protestieren konnte, stopfte sie ihm den Mund mit einer kleinen gefüllten Blätterteigtasche.»In der ist Käse, hier Kartoffel und da Melanzani. Das muß heiß gegessen werden«, und sie küßte ihn.

Das Fest verließen sie gemeinsam. Unter seiner Jacke eine Flasche Wein. Er fuhr sie nach Hause, und als Noa ihre Wohnungstür aufschloß, fragte sie mit breitem Grinsen:»Kannst du eigentlich jodeln, Johann Rossauer?«

«Ehrensache«, aber als er loskrähen wollte, kippte seine Stimme in ein Gekicher, und auch sie prustete los, und ohne zu wissen, warum, konnte er nicht an sich halten, wurde er von ihr mitgerissen und riß sie mit, ein Sturz aus großer Höhe, so ließ er sich fallen, Hals über Kopf, und mit einemmal wuchs ihm entgegen, was tief unter ihm und in ihm lag, sah er sich wieder mit Dov und gleich darauf am Friedhof. Und als hänge er an einem Gummiseil, als werfe er sich daran hinunter, bis es, gedehnt und gespannt, ihn wieder hochschleuderte zum Scheitelpunkt der Bewegung und er abermals niedersank und erneut stieg und wieder absackte, nichts als ein Yo-Yo im Auf und Ab, kam alles wieder hoch in ihm, und Tränen füllten seine Augen.

So kam es, daß er ihr in den nächsten Stunden von Dov und dem Begräbnis erzählte, von seinem Vater und dessen Nierenleiden. Und so kam es, daß sie ihm sagte, sie habe ihn bereits im Flugzeug erkannt. Sie sei nicht auf ihn hereingefallen, da sie bereits vor Monaten einen seiner Vorträge gehört habe. Und so kam es, daß sie einander zuhörten und hernach einschliefen, bis sie ihn am nächsten Morgen wach küßte, wodurch sich so manches zusammenfügte.

3

Für mich muß kein Kaddisch gesprochen werden. Hörst du, Ethan? Katharina schläft noch. Ich sitze im Arbeitszimmer. Müde bin ich und kann nicht schlafen. Draußen fahren die ersten Busse durch Jerusalem. Vor mir mein altes Aufnahmegerät, das du immer so lustig findest. Was weiß ich, warum. Hör zu, Ethan.

Für mich muß kein Kaddisch gesprochen werden. Meinetwegen braucht es keine Gebete und Trauerreden. Sie werden Nachrufe schreiben, werden eine Tafel enthüllen oder das Wartehäuschen an einer Bushaltestelle nach mir benennen. Überall ist zu lesen, wer diese Parkbank, jenen Kinositz oder irgendein Blumenbeet gespendet hat. Bald wird jedes Jerusalemer Pissoir an irgendeinen Moische Pischer aus New York erinnern. Urinale gegen das Vergessen. Öffentliche Bedürfnisanstalten des Gedenkens. Stille Örtchen gegen das Schweigen.

Trotzdem: Du hattest nicht recht mit deinem Artikel vor fünf Jahren. Du warst gegen die Schülerexkursionen nach Auschwitz. Ich war dort. Zigtausend Jugendliche, nicht bloß aus Israel, sondern aus Europa, aus den Vereinigten Schtetln von Amerika, religiöse, linke, rechte, unpolitische… Im Zentrum die Überlebenden. Manche erbleichen jedes Jahr, wenn sie durchs Tor gehen. Andere leben auf, sobald sie einander und sich an diesem Ort wiederfinden. Besuche ich sie in Tel Aviv, Los Angeles oder Buenos Aires wirken sie verloren, voller Angst, sie könnten eines Tages in den Baracken erwachen, aber kaum sind sie drinnen, im Lager, ist es, als wären sie befreit, zu Hause.

Manche irren umher, sprechen die ewig gleiche Leier, klammern sich an ihre eingeübten Sätze. Halten fest. Sind wie Aufnahmegeräte. Sie sind Gezeichnete und werden jetzt zur Aufzeichnung, zur lebenden Audiobegleitung, wie sie einem im Museum umgehängt wird. Tipp die Ziffern an, die da stehen, und dir wird erzählt werden. Sie waren abgebucht, jetzt sind sie überzählig. Sie zeigen ihre Nummer her… die Tätowierung immer bei der Hand.

Um sie die Kinder. Hörst du, Ethan? Alles dreht sich um die Überlebenden. Sie taumeln von einer Leidensstation zur nächsten. Sie kreisen um den Schmerz. Wir, die noch da sind, werden herumgereicht. Spielzeug für Pubertierende, rotieren wit vot den Jugendlichen. Jeder ein Stehaufmännlein und alle zusammen ein einziges Ringelreia.

Vom Disneyland der Vernichtung war in deinem Artikel zu lesen. Ob Teenager mit diesen Erlebnissen fertig werden könnten. Ob sie die Geschichte nicht mit einem Horrorfilm verwechseln würden. Ich erinnere mich an deine Worte. Als Buben gingen wir in den Prater. Hereinspaziert, meine Damen und Herren! In die Geisterbahn! Damals zahlten wir noch Geld, um uns fürchten zu dürfen. Diese Mädchen und Burschen, die im Lager zusammenkommen, sind im selben Alter wie wir damals. Sie nehmen Aufstellung. Sie hissen die Fahnen. Die Vergangenheit als Geländespiel. Das Vernichtungslager ein Feriencamp. Was soll ich dir sagen? Mittendrin einmal einer mit Ohrstöpseln, er lief mit Musik durch die Baracken.»Schalt es sofort ab«, schrie ein zweiter, kaum älter:»Das Gerät weg! Sonst kannst du nicht mit in die Gaskammer. «Es klang, als wäre von einer javanesischen Tempelanlage die Rede, von einer Weihestätte, vom Allerheiligsten. Der Jüngere aber sagte:»Willst du mich etwa daran hindern, in die Gaskammer zu gehen, du Nazi?«Das waren seine Worte:»Willst du mich daran hindern, du Nazi?«