Hörst du, Ethan? Halbe Kinder vor Kofferbergen und Brillenhaufen. Mitten im Krematorium das Gedudel ihrer Telefone, der neueste Hit, eine Filmmusik oder eine Fernsehmelodie. Während der Schweigeminute war es, da erklang einmal der Wagnersche Walkürenruf, erst die eine Synkope leise, dann die nächste lauter, und irgendein Schlemihl rannte zu seinem Rucksack, leerte alle Taschen, schleuderte Fetzen durch die Luft, um das Handy zu finden, die Töne stürmten im scharfen Galopp voran, und als er es endlich freigegraben hatte, erschallte das Hojo-toho von Gerhilde und Helmwige durch den düsteren Raum.
Du hattest nicht recht mit deiner Kritik. Hier sitze ich. Hörst du? Hier sitze ich und spreche zu dir aus Jerusalem. Ich kenne dich seit deiner Kindheit. Ich besuchte euch in Wien. Mit meiner damaligen Freundin Malka, der Turnlehrerin. Erinnerst du dich? Dein Vater war wieder einmal andernorts. Geschäftsreisen. Deine Mutter bestand darauf, uns das Ehebett zu überlassen. Sie wich aufs Sofa aus.
In der Früh ein Krabbeln an meinem Bein. Irgend etwas kroch an mir empor, und dann wurde die Decke zurückgeschlagen, und der Vierjährige, der du warst, kam zum Vorschein.»Bist du mein Papa?«Und ich:»Nein«, aber du hast dich an mich geschmiegt.
Ich will nicht so tun, als hätte dein Artikel mich nicht geschmerzt. Aber es war nicht Zorn, was ich fühlte, als ich ihn las, immer wieder, sondern eher Stolz auf den Buben, der damals auf meinem Bauch gelegen hatte.
Jahre später seid ihr nach Paris, nach London und nach New York gezogen. Aber überall warst du der Israeli; nur in Israel wurdest du zum Wiener, zum Jekke, zum Franzosen, zum Amerikaner. Schon als Siebenjähriger bist du im Hebräischen und im Deutschen gleichermaßen zu Hause gewesen. Deine Aussprache war frei von jedem Akzent, und eben deshalb warst du nirgends bodenständig, bist es immer noch nicht, sondern wirkst bis heute überall abgehoben.
Ich erinnere mich: Einmal haben dich deine Eltern als Waldbauernbub verkleidet. Du in Lederhose. Ich höre noch den Unterton, mit dem du erzähltest, daß die Gleichaltrigen in Osterreich an den Nikolaus glauben. Sie erkennen, sagst du, die Kindergartentante hinter dem Wattebart nicht. Du hast mich gefragt:»Sind die blind?«Einige Sommer später sehe ich dich in Tel Aviv, wie du den einstigen Nachbarskindern nachschaust, und du sagst — wieder nicht ohne Spott:»Sie glauben, ich werde in Wien als Jude verfolgt.«
Du bist ein Mischmasch aus Tel Aviv und eine Melange aus Wien, Ethan. Ich besuchte euch wieder, als du bereits Schüler warst. Deine Eltern erzählten, im Gymnasium hast du verkündet, nicht Latein lernen zu wollen. In Israel brauche das niemand. Darauf meinte der Lehrer, es sei gut, eine klassische Sprache zu studieren, doch du sollst ihm geantwortet haben:»Im Unterschied zu Ihnen beherrsche ich Hebräisch, Herr Professor, und das ist älter und klassischer als Ihre ganze römische Antike. «Erinnerst du dich?
Erinnerst du dich denn nicht? Irgendwann hattest du von dem Gerücht gelesen, Hitler habe überlebt. Ein ganzes Jahr lang ranntest du durch die Stadt, um den Führer zu entlarven.»Dov«, fragtest du mich einmal,»wenn Hitler nicht gestorben ist, könnte er dann in unserer Straße wohnen?«Weißt du noch? Du hattest einen Mann in Verdacht. Dem schicktest du Briefe. Die Angst deiner Mutter, als sie deine Entwürfe zufällig fand. Als sie las, was du diesem hohen Ministerialbeamten geschrieben hattest. Deine Drohungen, seine Vergangenheit zu enthüllen. Deine Erpressungen.»Was, wenn der uns klagt«, sagte sie. Sie wollte sich am nächsten Tag entschuldigen, da stieß sie am Morgen in der Zeitung auf die Nachricht, daß er überraschend zurückgetreten sei. Aus gesundheitlichen Gründen. Er ist ein verkehrtes Chamäleon, sagte dein Vater über dich. Er paßt sich seiner Umgebung nicht an, sondern hebt sich jeweils von ihr ab.
Aber was, wenn wir nicht mehr sein werden? Wenn sie dann kommen, aus Dresden, Teheran und Tennessee, aus Wien oder Wilna, wird niemand von uns aufstehen, niemand mehr beglaubigen, was uns am eigenen Leib widerfuhr. Nein, nicht um den eigenen Tod geht es mir. Hörst du? Für mich muß kein Kaddisch gesprochen werden.
Ethan schaltete das Band ab. Irgendwo im Haus bellte ein Hund. Das Licht eines trüben Nachmittags lag matt im Zimmer. Die kleinen Lämpchen der Tonanlage glühten. Kleine rote, blaue, grüne Edelsteine. Sie saßen in großen erdfarbenen Sitzsäcken, auf einem Tisch eine Teekanne über einem Stövchen mit Kerze.
Sie sagte:»Er hat einzelne Teile getrennt aufgezeichnet oder überspielt. Da, wo er das Gerät wieder einschaltete, ist ein leises Klicken zu hören. «Noa kauerte eingerollt auf ihrem Sack. Das Kinn auf den Knien, die Arme um die Unterschenkel.
«Er hatte immer den uralten Recorder dabei. Er verwendete ihn sogar, wenn er in einer Konferenz saß. Dann packte er das Gerät aus, drückte auf den Tasten herum, bis niemand mehr dem Vortragenden folgen konnte, und hörte selbst nicht zu, denn er war viel zu beschäftigt, alles aufzunehmen, um es sich nachher anhören zu können. Aber nie griff er später wieder zu einer seiner Kassetten. Sie verstaubten im Regal. Und in Wahrheit brauchte er sie auch nicht. Er wußte, wer was gesagt hatte, wußte, wer was sagen würde, ehe es ausgesprochen war. Er hätte dir erklären können, was du in einer Minute von dir geben würdest. Und das Schlimmste war, er irrte nie. Er stellte dich zur Rede, sagte etwa unvermittelt: Was die Frage angeht, die du mir gleich stellen wirst — und dann folgte jenes Thema, das mich im selben Augenblick, da er davon redete, zu interessieren begann — laß dir gesagt sein, Ethan. So ging das. Seine eigenen Vorträge hielt er hingegen nicht auf Band fest. Von sich hob er gar nichts auf. Er hielt eine Ansprache unter dem Titel Niemals vergessen! — und kaum war das letzte Wort verklungen, warf er das Papier weg. Er forderte, die Erinnerung zu bewahren, und löschte alle Spuren. Wozu also diese Aufnahme? Weshalb ist er plötzlich von seinen Gewohnheiten abgewichen?«Er öffnete das Kassettenfach.»Übrigens steht auf dem Etikett kein Datum. Er nennt auch keinen Tag und keinen Monat. Ich höre seine Stimme, als stünde er neben mir. In dieser Woche schaufelte ich Erde auf ihn und jetzt… Grüße aus der Gruft. Und wozu das Gerede vom Kaddisch, von meinem damaligen Artikel?«Das Kläffen des Hundes ging in ein Jaulen über.
Sie sagte:»Seine Stimme klingt vertraut. So nah. Einer von diesen Alten — in Tel Aviv oder Netania.«
«Jerusalem«, sagte er.
«Soll sein Jerusalem. Es gibt nicht mehr viele von ihnen.«
«Keiner war wie Dov«, sagte er.»Keiner.«
Sie denke an das Land. Sie spiele mit dem Gedanken zurückzukehren.
Er sah sie nicht an. Er hatte von Anfang an geahnt, daß alles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, zu schön war, um wahr zu sein. Nie hätte sie früher, als sie Israel verlassen hatte, einen wie ihn beachtet. Er sagte:»Ich wäre da nie zum Zug gekommen.«
«Du sowieso nicht. Aber Johann Rossauer. «Sie strich mit ihrem Fuß über sein Schienbein, und ihm war, als schwinge eine Saite in ihm, als stimme sie ihn auf sich ein.
Später fand er sich im Zweifel wieder. Er mißtraute ihr nicht, aber fürchtete, sie irre sich in ihm. Je besser sie ihm gefiel, um so unsicherer war er sich seiner selbst. Nichts verstand er von ihrer Arbeit und ihrem Beruf. Er stand staunend vor ihren Entwürfen. Für ein Hochhaus, das in Barcelona erst entstehen sollte, entwickelte sie eine Wandstruktur. Eine Berliner Zeitung versuchte einen Relaunch, und Noa sollte neue Schrifttypen entwerfen. Was hatte das mit ihm, was mit seinen Vorträgen, seinen Seminaren, mit seiner Forschung zu tun? Was mit den Arbeiten, die er verbessern, den Prüfungen, die er abhalten, den Zeugnissen, die er ausstellen mußte? Nichts. Und all die Intrigen und Kommissionssitzungen an den Universitäten. Ihr Leben kam ihm daneben ungebunden und frei vor.