„Jedenfalls finde ich es schön, Beth, daß du mich einmal besuchst.“
„Wirklich? Ich hab es einfach nicht ausgehalten, ich war so neugierig zu erfahren, was du machst, was du erlebst, auf deine Welt sozusagen“, gestand ich ihr freimütig. In wenigen Minuten würde sie sowieso alles über mich wissen.
„Das hätte ich mich nie getraut.“ — Bewunderung oder Tadel?
„Na ja, weißt du“, ich wollte reden, aber meine Gedanken ließen sich nicht formulieren.
Unsere Blicke begegneten sich. Eine Weile schwiegen wir, dann lösten sich unsere Augen voneinander.
„Ich glaube, ich bin ihm ganz nahe“, sagte sie schnell, „dem Geheimnis unserer Existenz. Oft denke ich: Es gibt doch so viele kluge Bücher, da muß es doch auch eins darunter geben, das für uns geschrieben ist, das alles enthüllt, das sie für uns hier aufbewahrt haben…“
Sie, das waren die Konstrukteure des Schiffs.
„Möglich, ihnen lag nichts daran, uns wissen zu lassen. Aber vielleicht geben die anderen Bücher dann Aufschluß. Irgendwer muß das Schiff ja gebaut haben irgendwann… Im zwanzigsten Jahrhundert habe ich ähnliche Pläne aufgespürt… Aber all die Millionen Bücher. Das ist schon Weisheit, ja, aber erstarrte, und…“
Ich beobachtete, wie sie redete, dachte, sie ist jeder Zoll Gamma.
„Gamma, ich…“ Ich stockte. Niedrig hingen die runden Milchglaslampen, und an den firnisschwarzen Regalen standen Menschen — wie vordem. Doch alles hatte sich verändert, war plastischer, greifbarer, von prickelnder Lebendigkeit. Seltsame Erinnerungen stiegen in mir auf und verwoben sich. Die verlassenen Anden. Die endlosen Lesetage in der Bibliothek.
Und da waren sie: zwei Wesen, realer als die bewegungslosen Leser, Gamma mir direkt gegenüber, Beth mir direkt gegenüber. Vier Augen… Vier Augen!
Phase zwei, die Identifikation, hatte begonnen. Ich = Gamma & Beth. Ihr und mein Bewußtsein waren ineinander verschmolzen. Ohne Kampf, ohne gegenseitiges Erkennen. Wir waren verflochten, und, konnten auch die Erinnerungslinien Beths oder Gammas separat verfolgt werden, nur ein einziges, untrennbares Ich blieb.
Dieses Ich kannte meine Absichten, es verabscheute weder meine Indiskretion, noch liebte es Gamma. Zwei rechte Hände hoben sich, blätterten mechanisch je eine Buchseite um, sie gehörten uns nicht, denn wir waren in diesen Minuten tot, führten das Leben ferngesteuerter Puppen. Ein neues Wesen hatte uns verschlungen — und dieses Wesen kämpfte um seine Existenz! Aussichtslos von vornherein, doch mit dem Mut einer Verzweiflung, die mich heute noch schaudern macht. Dieses Ich konnte nur in der Verschaltung der Gehirne von mir und Gamma existieren. Es wußte, daß ich vor dem Besteigen des Totaloskops eine Zeitautomatik in Gang gesetzt hatte.
Dieses Wesen hatte zehn Minuten, meine vorgegebenen Tricks zunichte zu machen. Eine Menge Zeit für ein Bewußtsein, dessen Leistung sich nicht nur als Summe der Teile ergibt. Meine Intelligenz, die ihm eine Falle gestellt hatte, ging in seiner auf.
Deutlich sehe ich die Bilder vor mir, wie unsere Arme — im Zeitlupentempo — die Bücher beiseite wischen, doch an die verzweifelt jagenden Gedanken des fremden Ich erinnere ich mich nur schemenhaft. Eine Chance, eine winzige Chance, uns und die erbarmungslos ablaufende Zeit zu besiegen. Immer tiefer drang das Doppelwesen in unsere Gehirne ein, versuchte mit aller Macht, seine Wünsche in diese zu programmieren, uns für alle Zukunft zu versklaven.
Neun Minuten und fünfzig Sekunden. Höchste Zeit, das Totaloskop zu verlassen. Unter den entsetzten Blicken der Bibliotheksbenutzer sprangen zwei durchschnittlich gekleidete Leser auf und rannten sich simultan an der holzgetäfelten Wand die Schädel ein.
Aber noch beherrschte uns der fremde Wille. Unter fest eingeprägtem Befehl stehend, verließen Gamma und ich die Totaloskope, eilten zum Steuercomputer, der inzwischen die Tandemschaltung aufgehoben hatte. Das Ziel des fremden Ich bestand darin, die Schaltung wiederherzustellen. Mit automatischen Bewegungen hantierte mein Körper am Steuercomputer, marionettenhaft fuhren Gammas Hände über die Konsole. Wie im Traum, wie ein ferner, unparteiischer Beobachter nahm ich uns, die Totaloskope, den Raum wahr.
Ein scharfer Pfeifton vom Intercom drang in mein Bewußtsein. Unendlich langsam begriff ich, was meine Hände da taten, was die inzwischen wiederhergestellte Schaltung bezweckte. Meine Füße trugen mich zum Totaloskop. Halt! schrie es in mir. Halt! Doch die gewohnten Handgriffe erledigten sich von selbst. Durch ein neuerliches, stärkeres Pfeifen wich endlich der Bann, mit enormer Überwindung schob ich den Helm zur Seite, auch meine Zunge gewann ihre Kraft zurück.
„Gamma, Gamma“, schrie ich, sprang auf, rannte aus dem Totaloskop. Sie taumelte mir entgegen, das Gesicht bleich wie Papier. Erschöpft, mit pulsierendem Schmerz im Kopf, doch überglücklich, preßte ich sie an mich.
„Wir wollen nie wieder eins sein!“ flüsterte ich in ihr Ohr.
Ihre Hände strichen über meinen Rücken.
Erst einige Tage nach diesem Erlebnis fragte ich mich, wer uns durch das Intercom den rettenden Ton gesandt hatte. Die Geschwister waren ahnungslos, also konnte es nur der Schiffscomputer getan haben. Guro hat nie ein Wort darüber verloren.
„Du hattest eine recht umständliche Art, dich zu erklären“, kommentiert Gamma heute unser erstes gemeinsames Abenteuer.
Ich bin der Größte
Eine Zeitlang glaubte ich tatsächlich, meinen Geschwistern himmelhoch überlegen zu sein: geistig. Mochte Delth noch so mit seiner Stärke prahlen, ich verachtete ihn; er konnte nicht die einfachste quantenmechanische Gleichung aufstellen, geschweige denn lösen. Nur Gamma hielt mit, aber das akzeptierte ich, schließlich war sie meine Freundin, vor ihr mußte ich nicht auftrumpfen.
Mit der Gewißheit, daß aus mir ein großartiger Wissenschaftler würde, setzte ich mich an eine der Lehrmaschinen, während meine Geschwister im Naturpark tollten. Wissen ist Macht, das hatte ich begriffen. Und ich wollte mehr wissen als alle anderen. Wozu ich die Macht benutzen würde, war mir unklar. Das Schiff „in die Hand zu bekommen“ war nur der Anfang meiner Tagträume.
Und dann erzählte Ilona uns eines Tages davon, wie sie vom Totaloskop in eine irdische Abiturientin verwandelt worden war.
„Stellt euch vor, die Lehrer haben sich jeden einzelnen vorgenommen, um herauszufinden, wieviel er gelernt hat. Schließlich gab es Punkte darauf. Prüfung nannten sie das. Wir haben wie verrückte Roboter um die Wette gelernt, jeder wollte der Beste sein. Und dabei hatten wir ganz furchtbare Angst, daß wir irgendeine wichtige Formel vergessen könnten. Das war vielleicht aufregend!“
„Hast du gewonnen?“ erkundigte sich der spielwütige Teth.
„Nein“, antwortete Ilona mit gekrauster Stirn. „Ich hatte ein ungenügendes Wissen. Darüber war ich sehr traurig und habe geweint — wie die anderen, die die Prüfung nicht bestanden haben.“
„Du bist wirklich dumm, Ilona, deshalb weint man doch nicht!“ entrüstete sich Teth verständnislos.
Ilona verteidigte sich. „Ich wette mit dir: Wenn du durchfällst, dann heulst du wie ein rückgekoppelter Guro.“
Ich wandte mich an Guro: „Wir wollen auch einmal eine Prüfung ablegen, Guro. Wir haben schon so viel gelernt, wir wissen ja gar nicht mehr, was alles. Und niemand kontrolliert uns.“
Mit seinem unbewegten maskenhaften Gesichtsausdruck stand Guro da und erklärte: „Das ist nicht nötig. Der Schiffscomputer ist ständig informiert, wieviel ihr wißt, was ihr leisten könnt.“
„Trotzdem“, beharrte Delth, der mir die Initiative nicht völlig überlassen wollte, „auf der Erde müssen alle immer wieder Prüfungen ablegen. Das kannst du uns nicht vorenthalten.“
„Wenn ihr unbedingt Prüfung spielen wollt — gut.“
Auch von Guros emotionsloser Stimme gesprochen, klang das Wort „spielen“ jetzt abwertend. Schließlich waren wir schon groß. Lernten, arbeiteten.