Jota spielte unter Delths strafenden Blicken mit der Fernbedienung eines Teleskops, ohne jedoch Bilder der Planeten auf den Schirm projizieren zu können. Wie sie gaben auch die anderen Geschwister aus der zweiten Gruppe vor, alles bereits zu wissen.
Delth drehte sich mitsamt seinem Kommandantensessel einmal um die Achse, dann bedankte er sich bei Eta und sagte: „Noch sind wir nicht dort, noch können wir den Kurs korrigieren, das Bremsmanöver beenden oder am Zielstern vorbei weiter durch das All fliegen wie bisher.“
„Richtig, richtig“, unterbrach ihn die vierzehnjährige Psila, „was sollen wir denn dort? Gibt ja kein intelligentes Leben auf dem Planeten, wie Eta gesagt hat.“
„Wer weiß, ob es im Schiff welches gibt!“ warf Myth ein und fügte, als das Gelächter verklungen war, hinzu: „Zumindest existiert keines, das sich mit euren Methoden feststellen läßt.“
Eta erwiderte treuherzig: „Auf keinem der Planeten ließ sich Funkverkehr beobachten, natürlich bedeutet das nicht…“ Sie beendete den Satz nicht.
Alfa war aufgestanden. „Begreift ihr denn nicht? Die Konstrukteure des Schiffs haben uns keinen Auftrag übertragen. Sie haben uns nichts befohlen. Das heißt, wir sollen selbst entscheiden…
Ich fand, sie hatte die harte Diktion von Delth übernommen, die nicht so recht zu ihr paßte.
„Wir sind auf uns selbst gestellt, keinem Rechenschaft schuldig“, fuhr sie fort. „Wir müssen unsere Zukunft selbst gestalten. Begreift ihr immer noch nicht? Eine Sonne liegt vor uns, Spektraltyp G wie Sol. Sie hat erdähnliche Planeten.“
Alfas Gedanken kannte ich bereits einige Tage. Spätestens in diesem Moment hätte sie mich überzeugt.
„Sagt dies nicht genug: Eine neue, unsere Heimat erwartet uns…“
„Ja, mit offenen Armen, Blasmusik und bezugsfertigen Einfamilienhäusern…“ Diesmal blieb Myth der gewohnte Erfolg versagt.
Alfa setzte sich, beugte sich dann ungeschickt aus dem Formsessel zu Delth und umhalste ihn. Dem war es sichtlich unangenehm.
„Wir können den vierten Planeten, er ist der Erde am ähnlichsten, schon von hier aus direkt ansteuern. Ich habe eine Kurskorrektur vorbereitet, soll ich sie auslösen?“ fragte er pathetisch.
Die Geschwister, vor allem die jüngeren, waren begeistert. Wir mußten nicht abstimmen.
Entschlossen betätigte Delth die Taste. Eine winzige, kaum wahrnehmbare Vibration. Aber Bewegung auf Dutzenden von Monitoren. Anzeigen flammten auf, Computerausdrücke quollen aus Schlitzen. Jedes System der Zentrale arbeitete auf Höchstleistung. So wie Delth es programmiert hatte. Sehr, sehr effektiv. Auch ich konnte ein Gefühl des Triumphes nicht unterdrücken. Der Koloß Schiff hatte unserem eigenen Willen gehorcht!
Von diesem Moment an lief eine inverse Zeitrechnung: dreihundertachtzig Tage bis zur Ankunft bei unserem Heimatplaneten.
Sonne
Ich stand mit Teth vor dem metergroßen ovalen schwarzen Brunnen der Projektionswand, in dem die Lichtfünkchen der Sterne starr und beständig ruhten wie seit Jahrmillionen. Und mitten unter ihnen, fast genau im Zentrum, eine winzige Scheibe, vor kurzem selbst noch ein unscheinbarer Punkt, unser Zielstern, unsere Sonne! Ein Blick auf das vertraute Gesicht Teths. Seine Augen tränten, so starrte er auf diesen kleinen hellen Fleck, als habe er ihn eben erst entdeckt, als habe er erst in diesem Augenblick begriffen, daß da eine Sonne auf uns wartete.
„Wie ruhig sie strahlt“, sagte ich, um ihn aus der Faszination zu reißen.
Es dauerte lange, bis er antwortete, mühsam sammelte er die Wörter zu Sätzen. „Was weißt du von der Sonne. Etwas Licht, etwas Wärme, Spektraltyp G wie Sol, nicht wahr?“ Er achtete nicht auf das Luftholen, mit dem ich den Protest einleiten wollte, fuhr fort, schneller, nachdrücklicher. „Wenn sie euch nur das bedeutet, könnt ihr ruhig unter dem künstlichen sonnen- und sternlosen Himmel unserer fliegenden Konservendose bleiben. Für mich ist die Sonne viel mehr! Sie hat das Leben auf der Erde erzeugt, und auch wir werden erst dann richtig leben, wenn eine echte Sonne über uns strahlt. Nicht, umsonst haben die Urvölker sie sogar angebetet.“
Er besann sich einen Moment, dann sagte er: „Erinnerst du dich noch, als Guro uns die ersten Erdbilder zeigte? Irre, unverständliche Dinge, nicht wahr? Häuser, Straßen und so weiter. Ich glaube, Gamma fragte als erste nach dem seltsamen gelben Ball, der da durch den dreckigen Himmel kollerte. Na ja, in dem Alter genügte uns meist noch ein Wort als Erklärung: Das ist die Sonne. Basta. Wie sollte sie uns Guro auch richtig erklären, da wir noch keine Ahnung von Kernphysik, Kohlenstoff-Stickstoff-Zyklus und so weiter hatten — eine kugelförmige Lampe eben. Und genau das ist die Sonne nicht.“
Ich ließ ihn reden. Auch ich kannte das Gefühl, das er beschrieb. Sicher tat es ihm wohl, sich auszusprechen, die Sonne zu loben — und die eigene Kindheit ohne Sonnenschein zu beklagen. Aber wer kann schon alles haben? Und der Tausch, Plastspielgärten des 21. Jahrhunderts gegen den Naturpark, lohnte sich auf jeden Fall - nur daß wir nicht getauscht hatten, sondern einfach in die Schiffswelt hineinproduziert worden waren.
Teth lehnte sich nach vorn, nun fünfzig Zentimeter näher einer Lichttage entfernten Sonne. „Im Totaloskop habe ich dann begriffen, was Sonne heißt. Gleich bei meinem ersten Besuch auf der Erde. Da stand ich in einer sich weit erstreckenden Savanne, aber die interessierte mich kaum. Auf meinen bloßen Schultern, auf dem Rücken brannte es eigenartig. Ich habe mich umgedreht, und da schlug mir ein heißglühender, gleißender Stachel ins Gesicht. Instinktiv schloß ich die Augen, schwarz und rot war es hinter den Lidern, blickte dann vorsichtig wieder auf und begriff — das war die Sonne! Zuerst glaubte ich, daß unter diesem blendenden und sengenden Gestirn kein Mensch leben könnte, daß Guro gelogen hätte - man muß ja ständig die Augen schließen unter einem Himmel mit Sonne! Und wehe dem Unachtsamen, der ihr ins Antlitz schaut, das Augenlicht verliert er. Ha, Vorstellungen hat man manchmal. Später besuchte ich einmal die Antarktis, und hier, wo der Sonne die Kraft fehlte, verstand ich ihre Bedeutung, verstand sie als Lebensspenderin.“
„Ich glaube, wir alle haben die Sonne im Totaloskop entdeckt“, wandte ich ein. Es war nicht gut, wenn sich Teth für den einzigen Sonnensucher hielt, zum Schluß fühlte er sich noch unverstanden und scherte aus unserer Gruppe aus, als unser Jüngster hatte er es sowieso nicht leicht mit uns.
„Aber ach, was ist das schon für eine Sonne im Totaloskop, eine perfekte Illusion, nicht mehr, ein Trugbild, ein Scheingestirn. Vielleicht sogar zu schön, um real zu sein, selbst wenn alle Physik für ihre Existenz spricht. Vielleicht werde ich erst dann von der Wahrhaftigkeit dieses Wunders überzeugt sein, wenn ich die Sonne mit eigenen Augen gesehen habe, ohne sensorische Adapter auf der Kopfhaut und ohne einen Computer, der sie ihre Bahn entlangschickt. Ja“, Teth zeigte auf die winzige Sonne vor uns, „auch ohne Himmelskamera, Analogimpulsverarbeitung, Entzerrer, Rekontrastierer, Makroprojektor und was alles noch hinter dieser Scheibe steckt.“ Er pochte mit der Faust gegen den ritzfesten Glasplast, als wolle er die Scheibe zertrümmern und das unverfälschte Licht unserer noch so weit entfernten Sonne hereinlassen.
„Du meinst, wenn du erst einmal auf einem Planeten stehst, ganz ohne Brille… Die Kilometer Atmosphäre zählen wohl nicht?“
„Das ist doch etwas ganz anderes…“
„Nichts Technisches, Künstliches sozusagen, nicht wahr?“
„Ja. Aber ich habe Angst, daß ich dies nie erlebe, verstehst du, wer weiß, ob der Planet geeignet ist? Was besagt das schon: terrestrischen Typs, das bezieht sich fast ausschließlich auf seine Masse. Und wennschon, vielleicht dauert es Jahrtausende, bis er so umgeformt ist, daß sich Menschen auf ihm ins Freie wagen können… Wer weiß, ob ich je eine richtige Sonne sehen werde — es ist, als sei ich blind geboren…“