„Beth hat recht“, schloß Delth die Diskussion, „wir ziehen uns schnell um und fangen sofort mit der Arbeit an.“
Später, gegen Morgen, überlegten wir uns, wie wir es unseren jüngeren Geschwistern schonend beibringen könnten.
Streik
Selbst so viele Jahre später bin ich noch bedrückt, wenn ich mich an diese verworrene Zeit sich anhäufender Schwierigkeiten erinnere, vor allem, wie dicht wir daran waren, Andymon aufzugeben. Ilona suchte verzweifelt nach einem geeigneteren Planeten dieses Sonnensystems. Vergebens. Wir hatten nur die Wahl zwischen Kampf und Resignation.
Dabei irrten wir gründlich, wenn wir annahmen, daß die Umgestaltung Andymons nur ein fast unüberwindliches technisches Problem sei, Computer, Energien und Maschinen erfordernd. Wir sahen damals nicht, daß ein Erfolg auch anderes voraussetzte: eine intakte, eingespielte Gemeinschaft, ein Hand-in-Hand-Arbeiten aller, wie wir es bisher nur innerhalb unserer Gruppe gewohnt waren. Es kam uns nicht in den Sinn, daß wir lernen mußten, selbst zurückzustecken, jüngeren Geschwistern den Vortritt zu überlassen, uns bei der Arbeit auf sie einzustellen und sie als gleichwertige Partner zu achten.
Nach dem Empfang der ersten Bilder von Andymon hatten wir bis in den Morgen diskutiert, um einen groben Überblick über die Probleme zu gewinnen. Dann hatten wir uns erschöpft für ein paar Stunden schlafen gelegt.
Erst zur Mittagszeit erschienen wir im Speisesaal. Er war ungewöhnlicherweise völlig leer. Enttäuscht holte ich mir aus dem Automaten eine Linsensuppe. Keine Gelegenheit, die Jüngeren staunen zu sehen, wenn Delth ihnen von Andymon vorschwärmte.
„Nicht mal beim Essen kann man sich auf sie verlassen“, sagte Delth.
Ich nickte, und Eta gähnte die leeren Stuhlreihen an. „Ich begreife nicht, wo die alle stecken. Niemand, nicht einer meldet sich über das Intercom.“
Alfa setzte sich nicht. Sie stützte sich auf eine Stuhllehne, wippte ein-, zweimal nach vorn. Ohne ein Wort verließ sie den Speisesaal.
„Sie hat nicht einmal gegessen“, sagte Delth und schlang seine Portion hinunter, „Wenn ihr fertig seid, helft ihr uns suchen, nicht wahr?“
Wir hatten uns getrennt. In den Korridoren war kein Laut zu hören - bis auf den Nachhall meiner Schritte. Ich schaute bei der Zentrale vorbei. ANDYMON — 141 TAGE. Kreuz und quer standen die Sessel, doch niemand saß an den Instrumenten. Dann warf ich einen Blick in die persönlichen Räume der dritten Gruppe. Bücher und Papier auf Tischen. Panoramafenster, die irdische Eiswüsten zeigten und irdische Korallenriffe und irdische Märchenlandschaften. Alle Bildschirme und Terminals waren ordnungsgemäß abgeschaltet. Ein einsamer Spielzeugroboter, plump und possierlich.
„Wo hast du denn deinen Menschen gelassen?“ fragte ich unwillkürlich.
Surrend drehte er den Kopf zu mir. „Ich kann nur sehr einfache Fragen Beantworten.“
Mechanisch lachte ich.
Mit dem Lift fuhr ich zu den Hangars. Alles leer, unberührt, ausgestorben. Ich rief, und in den weiten Hallen antwortete mir das Echo. Die Fähren und Exkursionsraketeh waren fest verankert, niemand hatte das Schiff verlassen. Ich öffnete die Luftschleuse, zählte die Skaphander. Keiner fehlte. Ich hätte der einzige Mensch, das einzige lebende, atmende Wesen an Bord sein können — und die Geschwister nur Einbildungen, Phantome, Träume. Vom nächsten Intercom aus rief ich Gamma. „Hast du jemanden gefunden?“
„Die spielen wohl Katze und Maus mit uns?“
„Oder einfach Verstecken — jedenfalls haben sie dem Hauptcomputer verboten, sie zu verraten.“
Ich dachte an die vielen Hallen, Gänge, Räume, Hangars, Transportröhren. Wenn sie sich wirklich verstecken wollten, konnten wir nur auf eine zufällige Entdeckung rechnen.
Wenig später informierte uns Alfa, daß sie im Naturpark wären. Ich nahm den Lift. Zwanzig Ebenen radial, fünf Sektoren axial. Dann stand ich zwischen den Felsen, fand den vertrauten Weg über die Wiesen, lief am Ufer des Sees entlang. Dabei traf ich auf Gamma und Teth. Erregte Rufe verrieten uns, wo sich unsere Geschwister befanden.
Als sei nichts geschehen, ja, als gäbe es keine andere Beschäftigung im Schiff, spielten sie auf einer großen Lichtung miteinander unter den wachsamen Augen der Guros: die Achtzehnjährigen aus der zweiten Gruppe, die Heranwachsenden aus der dritten und vierten, diejenigen, die den Naturpark eben erst hinter sich gelassen hatten, und die Kleinen und Kleinsten, für die es ein riesiges, tolles Fest war.
„Was macht ihr denn?“ rief Teth, vom Laufen noch rot im Gesicht. „Ihr müßt doch lernen, es gibt gerade jetzt mehr als genug Arbeit!“
Niemand antwortete ihm, niemand beachtete ihn. Dafür hatten mich zwei kleine Mädchen entdeckt. „Trag mich Huckepack!“ verlangte die eine, die andere bestand darauf, daß ich ein Hund sei.
Irritiert vertröstete ich sie auf später und wich zum Waldrand zurück.
„Was ist denn hier los?“ übertönte plötzlich Delths Stimme das Toben.
Eine Sekunde war Stille. Dann begannen die Jüngeren wieder zu lärmen, doch gleichzeitig löste sich Jota aus einer Reihe sich an den Händen haltender, singender Kinder. Jota galt schon seit der Krabbelwiese als die Wortführerin der zweiten Gruppe. Sie war nicht nur die Älteste, sondern zugleich die Längste und Wendigste unter ihnen.
„Wir machen nicht mehr mit“, erklärte sie kurz und bündig, und ihre dunklen Augen sahen herausfordernd auf Delth herab.
Als hätte sie ein Signal gegeben, scharten sich die Geschwister um sie, zuerst die aus der zweiten und dritten Gruppe, dann auch jüngere, sogar die Kleinsten kamen, neugierig, welches neue Spiel beginnen würde.
„Was?“ fragte Delth, als ob er nicht verstanden hätte. Er schlug zornig mit einem abgebrochenen Zweig durch die Luft.
„Eure Projekte!“
„Eure Lernerei!“
„Eure blöde Wissenschaft!“
„Ihr könnt uns mit eurem dreckigen Planeten gestohlen bleiben“, sagte Xith ganz ruhig, gerade er, der ungeduldige Blondschopf, der als erster bei Andymon hatte sein wollen.
„Ich begreife euch nicht, wir waren uns doch in allem einig, was habt ihr plötzlich?“ fragte Gamma erschrocken.
Lambda, die neben Jota stand und sonst selten etwas sagte, sprach mit vorwurfsvoller Stimme, die im wieder anschwellenden Lärmen der Kleinsten fast unterging: „Wir haben doch mit Andymon nichts mehr zu schaffen. Ihr habt ihn ganz für euch reserviert. Für uns fällt höchstens mal ein Häppchen ab: ‚Montier mal bitte den Orbiter, Lambda!‘ — Andymon ist sowieso nicht für uns da!“
„Aber das stimmt ja gar nicht, Andymon gehört uns allen, euch genausosehr wie uns“, sagte Alfa beschwichtigend, „und wir brauchen eure Hilfe gerade jetzt besonders.“
Alfas sonst so nützliches Einfühlungsvermögen versagte. Und sie erntete bissige Kommentare, vor allem von dem leicht erregbaren Fith aus der dritten Gruppe. „ ‚Hilfe‘. Was heißt ‚Hilfe‘? Sucht eure Hilfsarbeiter unter den Gorillas, oder baut euch ein paar Robotertrottel!“
Gammas Finger bohrten sich in meinen Arm. Ein drohender Halbkreis hatte sich um uns gebildet.
„Zum Schräubcheneindrehen und Programmieren sind wir euch gut genug, aber wenn die Bilder kommen, ist die Elite wieder unter sich!“
„Tut mit leid, daß wir euch in der Aufregung vergessen haben, aber schließlich könnt ihr euch ja die Aufzeichnungen anschauen“, erwiderte Delth nicht gerade diplomatisch.
Ein Sturm der Entrüstung antwortete ihm, aus dem sich nur die Kampfansage Myths seiner tiefen Stimme wegen abhob. Der Halbkreis war ein Stück enger geworden.
„Sind wir nun in einem Raumschiff oder im Kindergarten?“
Xith sprang auf mich zu, packte mich am Kragen meines Overalls. „Kindergarten und mit euch als menschlichen Guros! Das hättet ihr wohl gern!“
Ich schob ihn von mir weg, aber er hielt sich mit aller Kraft fest und schrie mir seine Anklage ins Gesicht: Die borniertesten Eltern auf der Erde wären tausendmal besser als wir, ja, unterdrücken würden wir die jüngeren Geschwister und dabei ständig lauthals beteuern, daß wir alle gleich seien.
Und während er so schimpfte und ich wieder und wieder den Mund öffnete, um etwas zu sagen, fand zwischen uns ein stummer Kampf statt. Ich versuchte, seine Hand, mit der er sich an meinem Overall festkrallte, aufzubiegen, er wehrte sich mit der anderen.
„Laß mich…“ Ich sah, daß meine Gruppe bei einer sich entwickelnden Schlägerei hoffnungslos unterliegen würde. Doch meine Arme boxten, schoben, rangen weiter.
Alfa schrie irgend etwas, Teth stolperte gegen mich und riß mich dabei fast um. In diesem allerletzten Moment kam unerwartete Hilfe von den Kleinsten, die zuerst unsere Auseinandersetzung für ein Spiel gehalten hatten und sich beteiligen wollten, nun aber erschrocken und verstört zu weinen anfingen.
Xiths Griff lockerte sich. „He, wer wird denn gleich heulen, Atrith.“
Der angesprochene Junge lief weg. Das war das Ende unserer handgreiflichen Auseinandersetzung.
Ich kniete mich vor einem etwa vierjährigen Mädchen nieder und erklärte ihm, wie dumm es sei, sich mit Worten oder Fäusten zu prügeln. „Aber weißt du, wir meinen das gar nicht so, wir sind nur etwas überdreht, haben zu lange nicht geschlafen. So ein Problem kann man durch eine sachliche Aussprache lösen, verstehst du? Schließlich sind wir alle Geschwister.“ Ich wischte ihr die Nase sauber, sie schluckte noch einmal und lächelte dann wieder.
Jota und Delth waren zur Seite getreten. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie sie miteinander diskutierten. Eine Weile gestikulierte Jota, und Delth schaute zu Boden, scharrte mit den Füßen im Laub, dann wieder nestelte Jota an ihrem langen schwarzen Zopf, und Delth redete auf sie ein. Ich habe nie erfahren, wie Jota ihre Vorstellungen Delth aufzwingen konnte. Durch Drohungen? Oder Argumente? Delth hat kein Wort darüber verloren.
Jedenfalls verkündete er, nachdem er durch einen lauten Pfiff die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, vor Kleinen wie Großen: „Also, die erste Gruppe und besonders ich versprechen, daß alle wichtigen Entscheidungen nur noch gemeinsam durch alle Gruppen, die den Naturpark verlassen haben, gefällt werden. Und daß bei bedeutsamen Ereignissen alle Geschwister zusammengerufen werden.“
Dieses Versprechen war damals eine bloße Proklamation, uns abgetrotzt durch die zweite und dritte Gruppe. Wir bekannten uns zwar prinzipiell dazu, doch dauerte es noch lange, bis wir bei der gemeinsamen Arbeit lernten, die Interessen der anderen auch im Kleinen zu achten, bis wir nicht nur die Mitglieder der eigenen Gruppe, sondern auch die Heranwachsenden, die noch nicht über unser Wissen verfügten, als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft akzeptierten.
Obwohl uns die Arbeit unter den Nägeln brannte, gaben wir an diesem Tag dem Drängen der Kleinen nach und spielten mit ihnen. Es galt, einen unschönen Eindruck zu verwischen. Erst am Abend, als sie erschöpft, doch glücklich einschliefen, durften wir sie verlassen. Ich war keineswegs weniger erschöpft.