Delth
Wieviel können doch sechs Monate und ein paar Zentimeter bewirken! Delths ganze Kindheit stand unter ihrem Zeichen, und auch meine blieb davon nicht unbeeinflußt. Er wurde ein halbes Jahr zu spät geboren, um der Älteste, der Allererste und damit naturgegeben die wichtigste Person zu sein. Daß ich ihn zudem um einen halben Kopf überragte, war für ihn eine ständige Herausforderung. Unablässig setzte Delth alles daran, mich zu übertrumpfen. Alfa, die ihre körperliche Stärke wegen ihrer Gutmütigkeit nie voll ausspielte, hatte er bereits bezwungen. Delth scheute keinen Kampf um das reichliche Spielzeug, er verzichtete auf keinen gefährlichen Alleingang durch den Naturpark, nur um seinen Mut zu beweisen und seinen Anspruch durchzusetzen, unser Anführer zu sein.
Anfangs durfte ich es noch wagen: „Den Ast erreichst du nie, Delth, dazu bist du zu klein!“ zu sagen oder seine großen Ohren mit den Richtmikrofonen Guros zu vergleichen. Es bereitete mir Vergnügen, zu sehen, wie er rot anlief und die Fäuste ballte.
Später kehrte sich das Verhältnis um. „Tja, Delth, du weißt doch: Kurze Beine — kurzer Verstand!“ Schon sprang mich Delth an und begann auf mich einzuschlagen. Ich wehrte mich, wir rollten über den unebenen, steinigen Boden, daß wir blaue Flecke bekamen und uns die Haut an herumliegenden Aststücken aufrissen.
Delths Taktik bestand darin, meinen Kopf und meinen Hals fest und fester zu umklammern. Meist gab ich dann schwitzend und um Atem ringend auf. Wenn ich versuchte, bis zum Äußersten, bis es mir schwarz wurde vor Augen, durchzuhalten, griff Guro ein, trennte uns und verkündete: „Delth hat gewonnen!“ — was uns nicht hinderte, Minuten später erneut übereinander herzufallen.
Manchmal höhnte Delth: „Was denn, Beth, dieses Strampeln soll Schwimmen sein? Ich bin bei der Insel, ehe du dreimal Luft geschnappt hast!“
Natürlich nahm ich die Herausforderung an. Doch wehe, ich holte Delth ein. Er kämpfte auch im Wasser, versuchte mich unterzutauchen, umklammerte meine Arme, auch wenn er dabei selbst tüchtig Wasser schluckte und beinahe unterging. Im Laufe der Zeit lernte ich es, Delth, der nicht so schnell schwimmen konnte wie ich, nie ganz einzuholen. Damit hatte er sein Ziel erreicht: Ich ordnete mich ihm unter.
Mit zehn Jahren war Delth körperlich uns allen überlegen und wußte genau, wie er uns gegeneinander ausspielen konnte. Er erfand immer neue Mutproben, um seinen Anspruch unter Beweis zu stellen. Kein Baum war ihm zu hoch, kein Dschungel zu dicht, kein Tier zu stark. Und wir eiferten ihm nach. Delth machte uns zu den unumstrittenen Herren des Naturparks, denen selbst rebellische Schimpansen und räuberische Kleinkatzen knurrend den Weg frei gaben. Zum Glück hatten die irdischen Konstrukteure des Schiffs keine größeren Raubtiere für die Dschungel des Naturparks vorgesehen, sonst wären unsere Abenteuer trotz der Wachsamkeit Guros und versteckter Rammas nicht immer so glimpflich verlaufen. So kamen wir mit Fleischwunden oder sofort zu behandelnden Schlangenbissen davon.
Noch hatten wir es nicht gelernt, die Gefahren, in die uns unsere Abenteuer brachten, richtig einzuschätzen. „Nur ich wage es, von hier hinunterzuspringen!“ Delth stand auf einem kleinen Felsen, der zu einer Seite hin etwa um zehn Meter steil abfiel. Zweifelnd sahen wir Delth an. Niemand von uns dachte an einen tödlichen Ausgang dieses Abenteuers — sterben, was ist das? —, dennoch war keinem von uns sieben Geschwistern das sinnlose Wagnis eine schmerzhafte Verletzung wert. Delth schon. Er schimpfte auf die beiden Rammas, die seinen Sturz mit Hilfe eines Sprungtuches dämpften. Keine Furcht zeigen, das war sein oberstes Prinzip. Und dann bekam ich die Schläge von ihm, die eigentlich den beiden Rammas galten.
An solchen Tagen haßte ich Delth mit jeder Faser meines Körpers. Ich versteckte mich vor ihm im Geäst eines Baumes oder hinter einer unübersichtlichen Felsgruppe. Mit offenen Augen träumte ich verworrene blutige Pläne, ihn in Fallgruben zu locken und zu steinigen oder ihn mit Lianen an einen Baum zu fesseln, bis er Opfer der von mir aufgestörten Termiten wurde. Doch wenn ich ihn Minuten später sah, wußte ich, wie schwach ich war und daß ich ihn nie würde überwältigen können. Mochte ich auch dabei mit den Zähnen knirschen, ich schickte mich in seine Befehle.
Denke ich heute an Delth, lächle ich über unsere vergangenen Kämpfe und Abenteuer - und ich traure um Delth.
Verstecken
Es gab Dinge, die mußte uns Guro nicht erklären. Auch das Versteckspiel erfanden wir allein. Wir hatten oft Tiere gefangen, waren ihnen in die Gipfel der Bäume nachgeklettert, durch die Seen und Tümpel nachgeschwommen, hatten ihnen Fallen gestellt oder aufgelauert. Mochten sie noch so beißen und kratzen, wir wichen vor ihnen nicht zurück. In ihren Schlupflöchern, Nestern und Höhlen hatten wir sie aufgestöbert. Bald kannten wir ihre Waffen und Tricks.
„Wenn ich ein Stachelschwein wäre“, sagte Eta, „würde ich mich so verbergen.“ Und schon war sie im Unterholz verschwunden, daß kein Fleck ihrer schwarzen Haut und keines ihrer Kraushaare mehr hervorschaute.
„Du und Stachelschwein… Deine Stacheln möcht ich sehen“, stellte Teth sachkundig fest, „du kannst mich nicht pieken!“
Aus dem Gebüsch erklang ein verräterisches Glucksen. Als Teth näher kroch, bewarf Eta ihn mit Ästen.
Es dauerte seine Zeit, bis wir vernünftige Regeln für das neue Spiel gefunden hatten, wir konnten uns ja nicht alle gleichzeitig verkriechen oder gleichzeitig suchen, und wir mußten unseren Bewegungsraum eingrenzen.
Delth teilte ein. „Du suchst, Beth, und wir schleichen uns weg.“
Die Geschwister zu finden fiel mir schwer, auch wenn ich viele Verstecke selbst ausprobiert hatte. Ein ganzer Naturparkdschungel voller verborgener Kuhlen, verdeckter Baumwipfel, dichten Unterholzes … Delth beschmierte sich gewöhnlich vor dem Spiel mit Schlamm, die bleiche Haut hätte ihn sonst verraten. Einmal suchte ich ihn fast einen ganzen Tag, er befand sich weit außerhalb des normalen Spielgebietes. Unmöglich konnte er sich in der festgesetzten Frist verkrochen haben, wie es die Spielregel forderte.
„Ich habe bis dreihundert gezählt — aber ganz langsam“, gab er zu.
Am liebsten hätte ich ihn mit meinen Fäusten gelehrt, daß man die Regeln einhält. Ich schwor mir, ihn am nächsten Tag unbedingt zu besiegen. Ganz lässig und überlegen wollte ich ihm zeigen, wie ich mich vor seiner Nase verstecken konnte, ohne daß er einen Zipfel von mir erspähte.
In dieser Nacht lag ich lange wach und überlegte. Sollte ich auf einen Baum klettern, mich im Blätterdach verbergen, auch auf die Gefahr hin, daß die Schimpansen mich fanden und bissen? Oder mich im weichen Boden einbuddeln? Das hätte zu lange gedauert. Dann kam der Tag heran und mit ihm die rettende Idee. Zu unserem Spielgebiet gehörte ein kleiner schlammiger Tümpel. Ich bastelte ein Atemrohr aus Schilf und tauchte in der warmen, stinkenden Brühe unter. Zuerst ließ es sich ertragen, doch dann saugten sich mehr und mehr Egel an meinem Körper fest. Ich hob den geplagten Kopf wieder über Wasser — Mückenstiche schmerzten weniger — und vollführte einen verkrampften Tanz, um mich von dem Ungeziefer zu befreien.
Plötzlich hörte ich ein verdächtiges Knacken. Delth! Ich zog mich wieder in den Schlamm zurück, verhielt mich ganz still, wagte kaum zu atmen. Und wartete. Dutzende von Atemzügen. Es zwackte an meiner Nase, ich erhob mich, vom Schmerz getrieben, alle Vorsicht beiseite lassend. Niemand war da. Wieviel Zeit mochte vergangen sein? Ich wußte es nicht.
Ein Ruf klang in der Ferne: „Na warte, Beth, dich finde ich schon, und wenn du dich bei den Rammas verkrochen hast!“
Ich atmete auf. Stieg sogar ganz aus meinem Tümpel und zerquetschte die blutsaugerischen Egel. Das gab schöne rote Flecken.
Ruhig, was war das? Fußgetrappel! Ein Sprung, und die Ungetüme plagten mich wieder. Mit verkniffenen Lippen nuckelte ich am Atemrohr. Bei einer unwillkürlichen Bewegung — das war kein Egel, das war mindestens ein Krebs — kam dreckiges Wasser hinein, ich pustete es frei. Ich hockte so, bis meine Knie zu schlottern begannen, dann streckte ich mich vorsichtig.