Die Schleuse schluckte den Lander mit gewohnter Präzision. Ich stieg aus, legte den Schutzanzug ab und trat in den altvertrauten Gang. Meine Beine fanden wie von selbst den Weg zum Naturpark.
Ich hatte den Park größer in Erinnerung. Jetzt schien er mir trotz seiner beträchtlichen Dimensionen geschrumpft. Mein Auge hatte sich an die Endlosigkeit, an die fernen Horizonte Andymons gewöhnt. Die riesigen knorrigen Sequoien, auf denen wir so oft herumgeturnt waren, beeindruckten mich desto mehr. Denn wie sollten sich die jungen Bäumchen Andymons mit ihnen messen können? Ich schaute über das den gesamten Himmel einnehmende Rund des Parks — etwas fehlte. Dann kam es mir in den Sinn: Die Menschen fehlten, die Kinder; nicht einmal ein Guro lehnte an den Felsen.
Die Paviane lärmten in ihren Bäumen, durch das Gras raschelten die kleinen Nager, Vögel pfiffen oder schwammen im See. Doch niemand scheuchte sie auf, kein zerschrammter Knabe tummelte sich unter den Bäumen, kein Pärchen war auf der Insel zu entdecken. Andymon hatte alle an sich gerissen. Nur die Kleinsten würde ich noch unter der Obhut der Rammas finden. Und in den Inkubatoren befanden sich noch Embryonen, zwei, drei vielleicht; wenige Monate nur noch, und die künstlichen Gebärmütter würden leer und tot dastehen.
Ich streifte einige Minuten durch das Gras, ging bis ans Wasser, dann verließ ich den Naturpark. Wie sehr er trotz allem von Leben erfüllt war, spürte ich augenblicklich, als ich die ausgestorbenen Korridore, Hallen, Labore des Schiffs betrat. Ja, dachte ich, du hast deinen Zweck erfüllt, dein Ziel erreicht, Schiff. Jetzt wirst du eingemottet, die Menschen haben dich verlassen.
Möglich, sie kehren eines Tages als Touristen zurück, kräftige Siedlerfamilien mit belegten Broten in geflochtenen Körben. Nur mit Mühe können sie noch die Gleiter steuern und haben eine geheime Furcht, sich der Schwärze des Himmels anzuvertrauen. Sie werden deine Eingeweide bestaunen, rasch ihr Picknick hinter sich bringen und sich, wieder daheim, gegenseitig beteuern: Dort könnte ich nie leben, welche Enge, die Luft wird einem knapp… Bestenfalls kommt ein Pärchen, dich auf seiner Hochzeitsreise zu besuchen. Vielleicht werden sie, weiß ich, ob mit Neid oder mit Abscheu, darüber reden, wie wir es hier getrieben haben sollen. Und vor den Inkubatoren werden sie stehen und flüstern: Wie konnte man nur, auf so unnatürliche, unmenschliche Weise…
Vielleicht, Schiff, wenn ich einmal alt bin — oder mich genügend alt fühle —, werde ich zu dir zurückkehren für immer. Und nichts träumen als meinen großen Traum vom besiedelten Kosmos. Den Traum, für dessen Erfüllung du geschaffen wurdest — und ich.
Eine Bewegung in der Ecke des Ganges riß mich aus meinen Gedanken. Über den sauberen Plast des Bodens huschte eine Maus. Nie hatten die Reparaturautomaten Tiere außerhalb des Parks geduldet und wir genausowenig. Ich trat an die nächste Rufanlage und verband mich mit dem Schiffscomputer. „Was soll das? Mäuse im Schiff! Läuft noch mehr Ungeziefer frei umher?“
Nein. Eine Lageskizze sämtlicher Löcher und Gänge der Mäuse kann auf Befehl vom nächsten Terminal ausgegeben werden.“
„Wieso läßt du das zu?“
„Die zehnte Gruppe hat eines Tages das Spiel ‚Katze und Maus‘ erfunden. Sie haben die entsprechenden Ordnungsbefehle geändert, und zwar…“
„Gut. Ich will, daß die ursprüngliche Befehlsstruktur wiederhergestellt wird.“
Das Nahen von Servicerobotern mit Käschern, in denen Mäuse fiepend protestierten, bewies mir, daß der Computer noch mit gewohnter Geschwindigkeit reagierte.
Ich lief weiter den Gang entlang, unwillkürlich orientierte ich mich an den bunten Symbolen: ZENTRALE. Da stand ich vor den Steuerpulten, vor den Displays und Anzeigen, und einen kurzen Augenblick blitzte ein Gedanke in meinem Hirn auf: Du brauchst dich nur hinzusetzen, nur die drei Sicherungen zu lösen, und schon gehorcht dir das Schiff, und du kannst starten. Am Planeten acht kannst du problemlos soviel Wasserstoff tanken, wie du brauchst… Wozu? fragte ich mich, was für ein verrückter Gedanke, Andymon ist meine Heimat.
Meine Hand flog über die Tastaturen, und die Kontinente und Meere Andymons füllten den Hauptschirm, daß kein Platz mehr für die Sterne blieb. Ich starrte den Schirm eine Weile an, dann ließ ich mir Ausschnitte vergrößern, um die Siedlungen ins Bild zu bekommen. Oasis nahm den gesamten Bildschirm ein. Da selten klares Wetter herrschte, konnte ich im Infrarot die einzelnen Häuschen unterscheiden, die Fahrzeuge erkennen, und vielleicht waren diese winzigen Punkte tatsächlich Menschen.
Bald würde ich wieder eins dieser Pünktchen sein. Und ein beschauliches Siedlerleben führen, den Blick fest am Boden, den Sinn nur auf den nächsten Tag gerichtet. Ein Leben, dessen planetarische Beschränkung mir bei aller Liebe zu Andymon, bei aller Großartigkeit der Aufgaben als zu eng, zu hausbacken erschien. Wie hatte Gamma gesagt? „Wir sind die Pioniere. Für uns gibt es keine Seßhaftigkeit.“ Wir hatten unsere Aufgabe, die Umgestaltung Andymons, erfüllt, waren unnütz nun wie das Schiff.
Eine Handbewegung wischte die Siedlung vom Bildschirm. Wieder leuchteten meine Sterne, die Sterne, die man von Andymon nur so selten sah. Ja, mein großer Traum, der Traum der Konstrukteure des Schiffs — Jahrhunderte würden vergehen, ehe die Menschen von Andymon, die Siedler, erneut den Gedanken fassen konnten, das All zu erobern.
„Nein“, sagte ich laut, „nein, ich kann und will nicht warten. Und wenn ich auch nicht zum Siedler tauge, den Andymon jetzt benötigt, so tauge ich doch zum Konstrukteur.“
Ich kann schlecht einschätzen, welchen Anteil Unzufriedenheit mit meinen jüngeren Geschwistern, Selbstmitleid oder sogar Enttäuschung über Andymon an meinem Vorsatz hatten und wieviel davon von den Konstrukteuren des Schiffs vorausgeplant und vorausgesehen war. Fakt ist, daß in diesen einsamen Minuten in der Zentrale ein Gedanke Gestalt annahm: Noch wir, die erste Generation, würden mit dem Bau von neuen Schiffen beginnen. Denn wenn die Entscheidung hierfür nicht bald fiel, würde sie in absehbarer Zeit, während meines Lebens und während der nächsten Generationen, nicht fallen.
Dann verließ ich die Zentrale, und meine Beine trugen mich durch die Korridore. Vertraut — und doch eine andere Welt, die Welt unserer Jugend. Hier waren unsere Zimmer. An der Tür zu meinem prangte ein unbekanntes Symbol. Ich öffnete die Tür, trat ein — und prallte überrascht zurück. „Entschuldigung“, sagte ich, „ich wußte nicht…“
Erschrocken sprang der Junge auf, sah mich an, lachte unsicher. Er war etwa zehn.
„Oh, macht nichts. Das heißt, du kannst ruhig reinkommen, Beth. Ich bin Jath.“
„Ich hatte nicht vermutet, daß sich außer Kleinkindern eine Menschenseele an Bord befindet, Jath.“
„Na ja, ich mußte noch einmal zurück, ich habe die paar Pflanzen da vergessen - und hier, was ich darüber geschrieben habe.“ Er nahm ein Papier vom Schreibtisch, das von Kinderhandschrift bedeckt war.
„Ihr habt neue Pflanzen gezüchtet?“ fragte ich und schaute mich in dem Zimmer um. An den Wänden hingen einige Bilder mit Gras und bunten Blumen.
„Na ja, Andymon braucht doch Blumen, bessere als die Erde hat, nicht wahr?“ Es klang aus seinem Mund ein wenig treuherzig, ein wenig trotzig. „Und dann habe ich sie vergessen, als wir runter sind. Das ging so schnell. Plötzlich durften wir. Da sind wir zum Lander gerannt und gestartet.“
„Hals über Kopf?“
„Ja. Wir wollten schon immer auf den Planeten. Wollten ganz schnell groß werden, um runter zu dürfen. Und als vor einem halben Jahr die Großen“ — er korrigierte sich — “die zwölfte Gruppe abflog, waren nur wir noch hier.“
„Und als ihr überraschend die Erlaubnis erhieltet, habt ihr eure Blumen vergessen. Und du bist allein zurückgekommen, um sie zu holen.“