„ ‚Spielerei‘, was heißt hier ‚Spielerei‘?“ Szadeth sprach, der als erster Vater eine gewisse Autorität besaß. „Wir versuchen, eine den Bedingungen angemessene Lebensform zu finden, und du nennst das Spielerei. Deine Schiffe sind unnötig, die sind Spielerei.“
„Nur gut, daß uns Resth informiert hat“, hörte ich hinter mir.
Ich drehte mich um und fragte: „Wo ist denn Resth, warum vertritt er seine Ansicht nicht selbst?“
„Es ist unsere Ansicht, wir brauchen Resth nicht“, entgegnete wieder Szadeth. Ich blickte in sein braunes, fast schwarzes Gesicht. Er nickte bekräftigend.
„Na schön“, sagte ich laut, „ich habe heute die Pläne mitgebracht, um sie euch zu zeigen und mit euch zu diskutieren.“ Ich hielt die pralle Mappe hoch, es war eine wenig überzeugende Geste.
„Beth, was sollen deine Pläne, wir wollen keine Schiffe bauen, wir haben ernsthafte Arbeiten vor und können uns nicht mit deinen Privatvergnügungen abgeben.“
„Schaut sie euch doch wenigstens an, bei richtigem Einsatz der Automaten brauchen wir nur zehn hoch drei Mannjahre für das erste Schiff, das ist realistisch, deshalb vergesse ich doch Andymon nicht. Und es kommt darauf an, daß wir, die erste Generation, damit beginnen.“
„Du bist verrückt, regst dich wegen der paar Stunden auf, die wir am Backofen gearbeitet haben, und willst selbst, daß alle, aber auch alle Geschwister zehn Jahre lang schuften, um auch nur eins von den Dingern zu bauen. Ohne uns, Beth, ohne uns!“
„Aber laßt euch doch erklären!“ rief ich, meine Stimme ging im Tumult unter. Ich nahm meine Papiere aus der Mappe, versuchte sie herumzuzeigen, die Netzpläne, Abschätzungen des Aufwandes an menschlicher Arbeit, die erforderlichen Maschinenkapazitäten, Bauvarianten, die Verknüpfung mit anderen Projekten, die wir sowieso realisieren wollten…
Niemand nahm mir die Pläne ab, man warf höchstens einen flüchtigen Blick darauf, sagte dann: „Schlag dir das aus dem Kopf, Beth!“ oder „Vielleicht später mal!“ oder „Diskutiere das erst mal mit den anderen!“ Ich rannte von einem zum anderen. Andymon stank, und meine Geschwister waren auf unbegreifliche Weise dumm, wollten den Sinn nicht einsehen, der für mich so offen auf der Hand lag.
Zum Schluß wandte ich mich hilfesuchend an Alfa, die sich mit keinem Wort an dem Gespräch beteiligt hatte. „Alfa, du bist doch nicht auch dagegen?“
„Beth, ich bin gegen alles, was Unfrieden stiftet und uns bei der Arbeit stört.“ Sie vermied es, mir in die Augen zu blicken. „Schade, du hast ihnen die Brotzeit verdorben, die kleine Feier, kein Wunder, daß sie verärgert sind.“
„Als ob es nichts Wichtigeres gäbe!“
„Es ist wichtig, Beth“, jetzt sah sie mich direkt an, „sie brauchen das, um hier auf Andymon heimisch zu werden, verstehst du, sie haben es schwer genug. Glaubst du, in Oasis läuft die Kultivierung des Planeten glatter als bei euch in der City?“
„Na ja, stimmt schon.“ Ich gab ihr widerwillig recht.
„Wenn du sie vor den Kopf stößt, gewinnst du gar nichts, Beth.“ Ich stimmte ihr zu, denn ich konnte mich nicht mehr sachlich verteidigen, dazu war ich zu aufgebracht. Mein Brot ließ ich angebissen liegen und vergaß auch, eins für Gamma mitzunehmen. Ich eilte zum Kopter, jagte hoch in die brodelnden Wolken — Abstand gewinnen.
Als ich sie da unten um ihren Backofen mit einem letzten raschen Blick sah, dachte ich: Ein richtiges Dorf, das sind Dörfler, die denken nur bis an die Raine ihrer Felder. Ist auch kein Wunder, Andymon ist viel zu groß, und wir sind nur so wenige, ja, daran liegt es, wir sind viel zu wenige. Vielleicht reicht unsere Anzahl nicht aus, um auf Andymon eine hochtechnische Zivilisation zu begründen? Vielleicht müssen wir tatsächlich erst zurück in die Steinzeit und ganz von vorn beginnen, den gesamten Zyklus gesellschaftlicher Entwicklung durchlaufen. Ich wünschte, ich wüßte es, wünschte, es müßte nicht so sein.
Dann inmitten der Wolken bedauerte ich meine unklugen Worte und schalt mich einen unüberlegten Hitzkopf. Hätte ich nicht auf eine bessere Gelegenheit warten können? Und ich fluchte auf den nicht anwesenden und doch so präsenten Resth, der mich durch seine angeblichen Enthüllungen in diese Lage gebracht hatte. Und ich dachte, wieviel schöner, wieviel einfacher war es doch früher, allein mit den Brüdern und Schwestern der ersten Gruppe, im Schiff gewesen, als wir uns noch einig waren in allen großen Fragen.
Reisender in Sachen Weltraumflug
Die Basis, tief in das feste Gestein Gedons gehauen, erinnerte mich auf angenehme Weise an das Schiff, hier herrschte die gleiche funktionale Nüchternheit: lange Korridore, deren Licht selbsttätig aufflammte und erlosch, mit Ziffernkolonnen bezeichnete Türen, die sich öffneten und schlossen, eine synthetische Stimme, die mich leitete. Es war vielleicht ein wenig kühl.
Gedon sah anders aus als bei meinem letzten Besuch vor vier Jahren, schon der erste Blick aus der landenden Fähre hatte mir das gezeigt. Das komplexe Geflecht technischer Konstruktionen hatte sich über viele Quadratkilometer ausgebreitet. Kuppelbauten, Stahlgerüste, endlose Antennenflächen lösten einander ab. Und wenn ich auch nicht erriet, wozu die meisten dieser Anlagen dienten, so beeindruckten sie mich zumindest durch ihre Dimension.
„Auf Gedon ist alles groß“, hatte Gamma mich spöttisch gewarnt, „die vierte Gruppe rechnet nicht mehr in unseren Begriffen. Wie kannst du annehmen, bei ihnen auf Verständnis zu stoßen, du kleiner Mensch?“
Im Gegensatz zu unseren Geschwistern in Oasis haben sie unsere Herkunft und den Kosmos nicht vergessen“, hatte ich, selbst nicht völlig überzeugt, geantwortet.
Gammas Begleitung hatte ich abgelehnt, denn ich glaubte, daß sie nur aus Sorge um mich mitkommen wollte. Ich hatte ihr versprechen müssen, in jeder Hinsicht vorsichtig zu sein. Außerdem sah Gamma mein Schiffsprojekt mit anderen Augen als ich. Sie betrachtete es mehr als ein Hobby, ein vielleicht notwendiges Hobby für uns Ungeborene, aber sie wollte sich Zeit lassen damit, bis noch ein paar jüngere Gruppen herangewachsen waren.
Die Leitstimme führte mich in einen Raum, der von einer Wand voller Blumen beherrscht wurde. Ich ließ mich in einen der Sessel nieder, der auf den ersten Blick wie ein alltägliches Möbelstück aussah, aber bei näherem Hinsehen aus einem mir unbekannten Grund anscheinend für hohe Beschleunigungen ausgelegt war; unter der flaumigen Oberfläche verbarg sich viel Elektronik. Kaum hatte ich mich gesetzt, öffnete sich eine Tür, und eine sehr schlanke, kleine Person trat ein. Sie war in hellen Farben gekleidet, die gut zu ihrem schwarzen, glänzenden Haar paßten. Ich erkannte Daleta, sprang auf und ging ihr entgegen: „Hallo, Daleta, habt ihr euch wieder auseinandergeschaltet?“
„Nein, Beth.“ Mit einer knappen Geste wies sie mich zurück in den Sessel. „Ich habe dein Kommen erwartet. Du wirbst für dein Vorhaben, Schiffe wie das unsrige zu konstruieren.“
„Ja, woher…“ Ich war verwirrt, meine Gedanken schweiften zurück, ich sah die Geschwister aus Daletas Gruppe daliegen, an die schweren Adapter angeschlossen. „Wieso…“, begann ich zu fragen und erhielt die Antwort, ohne den Satz vollendet zu haben.
„Ich bin nicht stehengeblieben. Vier Jahre sind für mich eine lange Zeit.“
Daleta, mir gegenübersitzend, neigte ihren Kopf und warf das schöne volle Haar nach vorn. Zwischen den schwarzen Haaren erkannte ich einzelne goldene, vielleicht ein Dutzend. Das war ihre Verbindung, die Antenne. Unwillkürlich spürte ich für eine Sekunde das Verlangen, die Situation zu nutzen, zuzugreifen, mit schnellen Griffen die wenigen goldenen Haare auszureißen, mit der implantierten nanoelektronischen Wurzel auszureißen, Daleta zu befreien. Die Sekunde verging, sie lehnte sich wieder zurück. Es war ein un-realisierbarer Gedanke gewesen, und mit Daletas Dankbarkeit hätte ich nicht rechnen können. Und trotzdem, diese andere, unbegreifliche Daseinsweise war für mich eine schmerzhafte Herausforderung.