War das ein Jammern am nächsten Tag! Schon als wir erwachten, zwickte es in den Armen, stach es in den Beinen. Wie fiel uns das Aufstehen schwer! Der Rücken schmerzte, und jede Bewegung war eine Pein. Wir glaubten krank zu sein, schlimmer krank als bei jedem Infekt zuvor. Noch vor dem Waschen, sonst eine fröhliche Angelegenheit, humpelten wir zu Guro und klagten unser Leid.
„Das vergeht“, sagte der nur, „in zwei, drei Tagen. Der Muskelkater kommt von der Anstrengung beim Graben. Er ist völlig normal und harmlos, ihr seid so gesund wie eh und je.“
An diesem traurigen Tag betrachteten wir das Loch nicht einmal aus sicherer Entfernung. Und wir bewegten uns nur im Notfall, lagen im Gras und beobachteten die Vögel über uns und die zarten Wölkchen und die gegenüberliegende Seite des Naturparks. Den Biberbach, der aus der Entfernung wie ein dünner Schnörkel aussah, den uns wohlbekannten Sumpf, die dunkelgrünen Flecken von Wäldern, die wir noch nicht durchstreift hatten. Etwa aufstehen und essen gehen? Da mußte der Magen schon mächtig knurren. Und wehe, Eta brachte uns zum Lachen, dann versprachen wir ihr Prügel. Guro nutzte die Ruhepause. Ganz freiwillig, aus reiner Langeweile lasen und rechneten wir alles, was er verlangte.
Auch am nächsten Morgen war der Muskelkater noch nicht vergangen. Teth und Eta liefen sogar, ihr Alter vergessend, zu ihren Rammas, um sich trösten zu lassen. Guro meinte lakonisch, daß die Schmerzen am schnellsten beim Weitergraben nachlassen würden.
Zeth hatte die Idee, die Plastteller von unserem Frühstückstisch einzusammeln. Zwar war der Rand der Teller nicht besonders scharf, doch kamen wir mit ihnen wesentlich schneller voran als mit den Grabstöcken und unseren zerschundenen Fingern. Dann hatten wir alle Schmerzen vergessen und buddelten aus Leibeskräften.
Ungeachtet der neuen Methode und des relativ lockeren Bodens plackten wir uns tagelang. Unsere täglichen Lernaufgaben erledigten wir notdürftig und in Gemeinschaftsarbeit, um schneller zu unserem Loch zurückkehren zu können. Mitunter versuchte einer auszuscheren, Eta, die lieber Vogelstimmen erlauschen und imitieren wollte, oder Zeth, der allein schwimmen ging. Sie trieb es bald wieder zu uns. Und Gamma legte ihren rechten Zeigefinger an die Nase und dachte laut nach, was wir unter dem Erdreich erwarten könnten: eine Höhle oder Wasser, eine Wiese, nur andersherum — vielleicht sogar die Höhlung, in der die Erde kollerte, flog? Sicher aber seltsame Tiere oder Unterlandpflanzen, auf jeden Fall etwas ganz Außergewöhnliches. Nur Delth blieb skeptisch und sagte: „Wartet’s ab.“
Nach zehn Tagen waren wir so tief, daß Delth, selbst wenn er sich auf meine Schultern stellte, den Rand nicht erreichen konnte. Allmählich verbreitete sich eine gedrückte Stimmung. Gammas letzte ungeheuerliche Spekulation, es könne immer so weltergehen, gewann von Tag zu Tag an Glaubwürdigkeit. Schließlich meinte sie sogar, wir müßten mindestens so tief buddeln, wie die Berge am Rand des Naturparks hoch seien. Das war zuviel für uns. Wir krabbelten den Abhang hinauf, warfen Plastteller und die aus Gras geflochtenen Tragekörbe zur Seite und beschlossen, nie wieder so ein unsinniges Riesenloch zu graben. Allein Gamma schmollte.
„Ihr habt einfach keine Ausdauer. Zum Herumspielen reicht’s, aber wenn man etwas Großes..
Ilona bot ihr Schläge an, war aber zu müde, um ihre Drohung wahr zu machen.
Am nächsten Tag spielten wir am See. Gamma fehlte, und Alfa sagte zu mir: „Ich weiß, wo sie ist.“
Natürlich, es gab nur eine Möglichkeit. Wir suchten sie an unserem kraterförmigen Loch. Als wir den Wall erklommen hatten, sahen wir sie bewegungslos im Zentrum des Trichters liegen. Erschrocken sprangen wir hinunter. Gamma lag da und weinte. Ich begriff nicht, warum, bis ich den vermeintlichen Plastteller aufheben wollte — es war der Boden des Trichters, der Boden des Naturparks, damit der Boden, der Rand, die Grenze unserer Welt. Ein Plast, den Steine nicht ritzen, den Säuren nicht ätzen, den Feuer nicht versehrt. Unsere Welt war zu Ende, ich konnte mich in ihrer Abgeschlossenheit wohl fühlen, aber Gamma beunruhigte es.
Wir nutzten den Krater noch für viele Spiele.
Gemeinsam waren wir bis zum Äußersten vorgestoßen — dies war eine Lehre, zu der uns Guro kein Märchen erzählen mußte.
Einsamkeit
Es war schön, mit den Geschwistern zu spielen. Und doch… Einmal wollte ich meine Kräfte allein erproben, einmal der Bevormundung Delths entgehen und den ständigen Fragen und Vorschlägen und Überfällen meiner Gefährten: Ich wollte allein sein. Dafür war ich bereit, schwere Strapazen auf mich zu nehmen. Irgendwo, jenseits aller Gebiete, die wir auf unseren Streifzügen durchquert hatten, mußte ein Stückchen Land liegen, das mir die gesuchte Einsamkeit verhieß.
Am Morgen, als die anderen noch schliefen und noch ehe die Müdigkeit ganz aus meinen Gliedern gewichen war, schlich ich mich davon. Eilig wanderte ich durch den vertrauten lichten Wald, durchschwamm den kleinen See und überquerte den Schlangensumpf. Unterwegs pflückte ich wildwachsende Früchte und verschlang sie heißhungrig.
Unsere Abenteuer hatten uns schon um unsere ganze Welt geführt. Nach vielen Stunden anstrengender Wanderung hätten wir den Naturpark durchkreist, befanden uns wieder am Ausgangspunkt. Diesen bekannten Weg wollte ich nicht wiederholen. Deshalb schlug ich mich seitlich tiefer und tiefer in das fast undurchdringliche Dickicht. Ich achtete nicht auf die Dornen, die meine abgehärtete Haut ritzten, ich lächelte nur über die Nesseln, die mich brannten, und fürchtete die Giftnattern nicht, die mir entgegenzischten. Mir gehörte ein langes, gekrümmtes Messer, das mir schon viele Dienste geleistet hatte, und ich wußte, daß meiner Entschlossenheit nichts widerstehen konnte.
Mit ganzer Kraft hieb ich auf alles ein, was mir den Weg versperrte, zerschlug Lianen und dünne Zweige, kroch unter dickeren durch, kämpfte mich Meter um Meter durch das dichte Unterholz. Mein rechter Arm begann zu schmerzen, ich nahm das Messer in die Linke, und weiter ging’s. Immer häufiger hielt ich erschöpft inne, wartete, bis meine Beine und Arme wieder Kraft gesammelt hatten. Stunde um Stunde bahnte ich mir meinen Weg durch das Dickicht und sehnte mich nach dem Ende der Wanderung, nach Ruhe. Farnwedel, höher als ich, schütteten mir ihre Sporen ins Gesicht. Öfter strauchelte ich über harte Wurzeln und erschrak vor morschen Ästen oder lose baumelnden Lianen. Das Licht des Tages versiegte schon, als ich am letzten Urwaldriesen vorbei ins Freie humpelte. Ich kannte nur noch einen Wunsch, suchte einen geeigneten Platz und bettete mich auf den unebenen Boden, wickelte mich in die vorsorglich mitgenommene Decke und schlief trotz knurrenden Magens sofort ein.
Das Lärmen einer Affenhorde weckte mich. Im ersten Moment begriff ich nicht, wo ich mich befand, dann aber sprang ich auf meine Füße, um den Ort zu beschauen und etwas Eßbares zu suchen. Hinter mir lag der sirrende, schreiende, stöhnende Dschungel, und vor mir türmten sich Felsen über Felsen zu einem gewaltigen Gebirgsmassiv. Meine Augen folgten ihm bis in schwindelerregende Höhen, weiter und weiter hinauf — bis zum jenseitigen Rand des Naturparks! Mühsam riß ich meinen Blick los.
Zwei Tage blieb ich an diesem Ort der Einsamkeit hinter dem Dschungel, ernährte mich mühselig und kärglich von den Früchten, die mir der Urwald bot.
Einen Freund gewann ich: einen jungen Schimpansen, der nicht wie die alten vor mir davonlief oder mich durch Astwürfe oder drohendes Geschrei zu vertreiben trachtete. Ich folgte ihm in die Baumgipfel, wo die saftigsten Früchte gediehen.
Der Versuchung der Felsen konnte ich auf die Dauer nicht widerstehen. Am dritten Tag machte ich mich auf, kletterte empor über rauhe Steinflächen und messerscharfe Grate, überquerte ein steil hinabschießendes Rinnsal, einen Zulauf des Biberbaches, klomm höher, immer höher, bis gegen Mittag die überforderten Muskeln meiner Arme so unkontrolliert zitterten und zuckten, daß ich fürchten mußte, hinabzustürzen und zu zerschellen. Ich aß ein wenig, legte mich in eine Felsnische und entspannte mich, wie Guro es uns gelehrt hatte.