Gamma war nicht an meiner Seite. In der Hoffnung, daß es Resth nicht gelungen sei, alle Sicherungen des Computers zu umgehen, war sie schon am Vorabend zum Schiff geflogen. Es war aussichtslos. Ihr langes Schweigen bestätigte meine düstere Überzeugung. Sie hätte längst aufgeben, zurückkehren sollen, um mich bei der schwersten Auseinandersetzung meines Lebens zu unterstützen. Aber nein, sie setzte die sinnlose Suche fort, war nur durch das Intercom zugeschaltet, das ich in Händen hielt. Blödsinn, dachte ich, ich will mich über Gamma nicht ärgern; recht hat sie: Mein Projekt läßt sich auch im Amphitheater nicht mehr retten, und Resth zu entlarven wird leicht sein.
Dann strömten die Einwohner von Oasis heran. Einige von ihnen begrüßten mich freundlich, doch fehlte die gewohnte Fröhlichkeit. Sie nahmen die Felsenplätze gegenüber der Bühne ein.
Resth traf ein, und im Amphitheater breitete sich für kurze Zeit gespanntes Schweigen aus. Gefolgt von seiner khakibekleideten Garde, der zehnten Gruppe, schritt er langsam die Treppe hinab. Mit hocherhobenem Kopf schaute er grüßend und siegesbewußt in das Rund.
Unsere Blicke kreuzten sich eine Sekunde. Die Löschung kannst du nicht rückgängig machen, Resth, dachte ich, und doch triumphierst du zu früh! Im Totaloskop hast du die Initiative in der Hand gehabt, hier in der Wirklichkeit werde ich den programmierten Alptraum durchbrechen.
Resth besah sich prüfend die freien Sitzgelegenheiten und begab sich zielgerichtet auf die linke Seite direkt neben der Bühne.
Nach und nach füllte sich das Amphitheater. Die bereits fertiggestellten Sitzreihen reichten nicht aus, auch weiter oben, auf Vorsprüngen, in Nischen sah ich bunte Flecken von Blusen und Hemden, von mitgebrachten Decken, schwarze, braune, vereinzelt blonde Haarschöpfe dazwischen. Jetzt, wo es kritisch wurde, hatten sich die altvertrauten Gruppen wieder zusammengefunden. Nur Alfa saß verlassen in etwa gleichem Abstand zur sechsten und ihrer eigentlichen Gruppe.
Langsam verstummten die Geräusche, das Geplapper der Gespräche. Wir saßen und warteten, die Aufzeichnungsgeräte liefen, selbst die vierte Gruppe, das „Monster“ von Gedon, beobachtete uns. Mir wurde auf einmal bewußt, daß wir stumme Zeugen hatten: unsere Nachfahren, die Andymonen der Zukunft. An einem Knotenpunkt der Zeit, dachte ich, wo Vergangenheit und Zukunft zusammenlaufen.
„Anfängen!“ rief jemand halblaut vom steinernen Rang herab.
„Fang doch selbst an, Joth!“ kam prompt die Antwort.
Joth, recht günstig auf einem Felsvorsprung plaziert, erhob sich. „Na, wenn niemand anders will? — Ich glaube, das beste ist, sofort zum Thema zu kommen. Beth, sage uns, was du Resth vorzuwerfen hast.“
Der besseren Akustik wegen stand auch ich auf. All die wohlformulierten, vorbereiteten Sätze waren vergessen. Die Erinnerung und die mit ihr verbundene Erregung überwältigten mich: die Demontage meiner Fabrik, die versuchte Erpressung, die Verleumdungen vorher. Meine Stimme überschlug sich beinahe, als ich die Ereignisse, Resths Gemeinheiten, so grell, wie ich sie empfand, schilderte. „Jetzt ist die Reihe an dir, Resth. Ich bin gespannt, wie du dich rechtfertigen willst.“
Während ich mich setzte, schaute ich um mich, um die Wirkung meiner Worte festzustellen. Sie war recht zwiespältig, vor allem die älteren Geschwister riefen empört nach einer Bestrafung, während viele jüngere sich gleichgültig zeigten.
Resth, der bisher keine Miene verzogen hatte, erhob sich und sprach mit einer wegwerfenden Geste: „Beths Anklagen kommen etwas spät, denn ich habe euch gestern über Video meine Gründe mitgeteilt, und ich bin sicher, ihr versteht sie.“
Während er einen Teil davon wiederholte, sprang Ilona zornig auf. „Was ich verstehe, ist, daß wir gut genug waren, für euch den Planeten aufzumöbeln, jetzt haben wir unsere Schuldigkeit getan und können gehen…“ Und Teth setzte fort, daß Resth wohl der letzte wäre, der ein Recht hätte, für Delth ein Denkmal zu errichten. Worauf Alfa beteuerte, sie sei im Glauben gewesen, wir hätten alle zugestimmt. Joth gelang es, sie zu beschwichtigen.
Resth fuhr fort, als hätte man ihn nie unterbrochen. Keiner der Anwesenden sei mir und meinen Wahnsinnsprojekten energisch genug entgegengetreten, und so habe er, Resth, sich gezwungen gefühlt, die Verantwortung zu übernehmen. „Und ich habe den Schiffbau verhindert. Daß ich dabei - so leid es mir tat — das Äußerste unternehmen mußte, ergibt sich aus dem Ernst des Problems. Beth mag mir vorwerfen, was er will, ich habe mir nichts vorzuwerfen.“ Unter dem Beifall seines Gefolges setzte sich Resth. Seine Pose war beeindruckend und herausfordernd zugleich. Sollte es ihm gelingen, nachdem er meine Pläne zerstört hatte, mich auch mit Worten zu schlagen? Hier und da sah ich in den Reihen der jüngeren Geschwister beifälliges Nicken. Entschlossen erhob ich mich wieder. Doch Shinth kam mir zuvor. Während ich das schweigende Intercom auf seine Funktionstüchtigkeit überprüfte, hörte ich ihm zu.
„Jeder von uns hat schon Fehler gemacht, und in den Zielen stimme ich und stimmen viele meiner Geschwister aus Oasis, ja, wir Wühlmäuse, wie ihr Citygreise uns nennt, mit Resth überein, aber eine Fabrik zu demontieren und reihenweise Anlagen im Dreck rumliegen zu lassen, wo sie verrosten, das regt mich auf. Und dann predigen, wir können uns keine Verschwendung leisten. Und die Informationen im Schiff gehören uns allen, kein einzelner hat das Recht, die zu löschen. Das ist eine noch viel größere Verschwendung!“
„Bravo, Wühlmäuse!“ klang es von den Felsen herab.
Im Amphitheater schwoll der Lärm an, überall bildeten sich erregt diskutierende Grüppchen. Resth schaute irritiert nach rechts und links. Das blondhaarige Mädchen, das hinter ihm saß, Nrada, die jüngste Sprecherin des Tages, schleuderte Shinth ihre Meinung entgegen. „Aber wenn es die einzige Möglichkeit für Resth war, die geheimen Pläne der ersten Gruppe zu entlarven?“
Resth zuckte bei dieser Hilfestellung zusammen.
„Ich hör wohl nicht recht?“ Eta, zwei Plätze rechts von mir, verschaffte sich händeklatschend Gehör. „Welche geheimen Pläne habe ich?“
Ich konnte ein Grienen nicht verwehren, als Nrada vielsagend Resth anschaute. Der fummelte an seinem Hemdkragen, wohl weniger der herrschenden Hitze wegen.
„Jeder weiß doch, daß ihr aus der ersten Gruppe Schiffe bauen wolltet. Kann sein, daß ich dann und wann in den Formulierungen ein wenig übertrieben habe. Dabei geht es mir nur darum, daß wir die eigentlichen Aufgaben nicht vergessen: Andymon muß besiedelt werden. Dazu ist nötig, daß wir viele Kinder bekommen. Ich sehe keinen Grund, weshalb die erste Gruppe in dieser Frage abseits steht.“
Resths Ausgekochtheit verblüffte mich. Nicht so den schlagfertigen Myth. „Du selbst bekommst ja auch keine!“ Gelächter hallte von den Reihen. Voller Unwillen schaute sich Resth nach seiner hochschwangeren Freundin Pea um. Den Kopf in beide Hände gestützt, starrte sie finster auf ihre Füße. Hätte man ihr diesen Tag nicht ersparen können?
„…nicht ablenken“, hörte ich Joth, „muß ich erst Guros rufen, damit ihr euch beruhigt? Ich fasse zusammen: Resth hat weder die Sabotageaktionen noch die ausgestreuten Verleumdungen rechtfertigen können. Denn der Zweck heiligt nicht die Mittel.“
Ich schob das Intercom, das vor mir auf der Felsplatte lag, hin und her. Hatte Gamma nicht gesagt, daß Resth und ich gleichermaßen unsere Geschwister unterschätzten? Sie seien längst erwachsen und von mündiger Vernunft, sie an der Hand zu führen wäre Unsinn. Joth, der sich sichtlich bemühte, die Versammlung gut zu leiten, hätte ich diese sachliche Zusammenfassung nicht zugetraut. Und er fügte noch hinzu, daß Resth offensichtlich versucht habe, anderen seinen Willen aufzuzwingen — also genau das, was er mir vorwerfe.
Auf Resths rhetorischen Einwand, es gäbe Fälle, in denen man andere zu ihrem Glück zwingen müsse, hörte kaum einer mehr. Etwa zu diesem Zeitpunkt begannen einige aus der zehnten Gruppe, auf ihren Plätzen unglücklich hin und her zu rutschen.