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Gamma schwieg. „Ich höre ja zu“, sagte sie dann müde, „und wenn ich jetzt Erfolg hätte, könntest du die Gunst der Stunde nutzen..

Der kleine Bildschirm erlosch. Zu viele Gedanken gingen durch meinen Kopf, Gamma, der Schiffbau, die Struktur unserer künftigen Gesellschaft. Im Amphitheater war es dämmrig. Ich schloß die Augen. Alfa sprach.

„Die weitere Entwicklung hängt doch nicht davon ab, welche Gesetze wir formulieren, sondern davon, wie wir miteinander leben. Wie wir unsere Kinder erziehen. Wenn unter unseren Kindern Liebe und Eintracht herrschen, brauchen wir keine Gesetze — die sind doch etwas Äußerliches.“

Alfa hatte wie in alten Tagen unser Selbstverständnis getroffen. Allerdings wußte ich, daß in letzter Konsequenz Jota recht behalten würde. Noch kannte jeder jeden, auch wenn ich schon nicht mehr alle Geschwister beim Namen zu nennen vermochte. Noch lebten wir, bildlich gesprochen, in einem nicht allzu großen Dorf. Jeder konnte jedes Problem mit jedem besprechen, noch konnten wir alle Fragen direkt und gemeinsam entscheiden. Zwei oder drei Generationen würde dieser idyllische Zustand vielleicht währen. Maximal. Was kam danach? Demokratie oder Anarchie? Herrschaft einer kleinen Gruppe? Schon die geographische Aufspaltung in Andymon-City und Oasis hatte genug Zündstoff mit sich gebracht.

Das Rufzeichen des Intercoms riß mich aus meinen Gedanken. Gamma strahlte über das ganze Gesicht. „Ich hab’s dir doch gesagt, der Schiffscomputer läßt sich nicht so einfach löschen. Da müßte man schon die Monokristallesespeicher schmelzen oder zertrümmern. Resth hat lediglich das Zugriffssystem total durcheinandergebracht. Die Konstrukteure haben ihr Werk gegen spielende Kinder und Unbefugte abgesichert.“

Das Amphitheater, über das die Nacht hereinbrach, die düsteren Wolken am Himmel, die hellen Flecken der Taschenlampen, die einige Geschwister eingeschaltet hatten, das alles drehte sich um mich. Ich schlug Teth auf die Schulter, küßte Ilona, tanzte auf der steinernen Brüstung entlang und schrie immer wieder: „Habt ihr’s gehört? Nichts ist gelöscht!“

Befreites Lachen war zu hören. Und die Geschwister stellten alle Intercoms auf größte Lautstärke. Gamma mußte ihre Erfolgsmeldung vor allen wiederholen.

„Nun steht dem Schiffbau nichts mehr im Wege.“

Das Schweigen, das darauf folgte, war fast so tief wie jenes, das Resth begrüßt hatte. Meine rauschartige Glücksstimmung war wie weggeblasen, eine große Erschöpfung bemächtigte sich meiner. Ich war abgestumpft, ausgebrannt, unfähig zu argumentieren, zu kämpfen. Mir selbst erschien der Schiffbau plötzlich wie eine ferne, verrückte, ja geradezu mystische Idee. Ich wußte, die Geschwister schauten aus dem dunklen Rund des Amphitheaters auf mich, doch ich konnte jetzt nichts sagen. Teth stieß mich an, ich nickte benommen.

„Wir wollen nicht heute oder morgen vorschnelle Entscheidungen fällen“, hörte ich Joth, „der Schiffbau hat Zeit. In ein, zwei Jahren werden wir klarer sehen. Seid ihr meiner Meinung?“

Beifälliges Gemurmel antwortete ihm, nur Zeth protestierte lautstark. „Du machst es dir zu einfach. Mißbrauchst die Versammlungsleitung.“ „Natürlich kann Beth, wenn er das für richtig hält, Vorarbeiten leisten, die Unterlagen bereitstellen und so weiter…“ Es war Szinas Stimme, sie sagte eine Selbstverständlichkeit, denn keiner schrieb dem anderen vor, was er unternehmen durfte und was nicht — und doch war ich ihr dankbar.

„Klar. Es ist schon Nacht. Haben alle aus City bei uns in Oasis ein Bett? Gut, machen wir Schluß für heute.“

Verwaschene Lichtflecken bewegten sich die steinernen Ränge entlang, tanzten die Treppen hinauf. Schweigend lief ich inmitten meiner Gruppe. Hatte ich denn mehr erwarten können? Begeisterte Zustimmung etwa?

Ein Schatten näherte sich mir, jemand tippte mich an. Im Widerschein einer Taschenlampe erkannte ich Psith.

„Du, Beth, sei nicht traurig, alles ist offen. Du hast mir einmal sehr geholfen oder zumindest helfen wollen, ist auch egal. Jedenfalls sollst du wissen, daß du immer auf mich zählen kannst. Andymon, gut und schön, aber ein Schiff bauen… Ich glaube, das könnte mir Spaß machen.“

Weniger zurückhaltend als sonst umarmte ich ihn. „Wir fangen an, Psith, wart’s nur ab, irgendwann fangen wir an.“

Bei Oasis erwartete mich, ebenso erschöpft, ebenso von einem Stimmungsextrem ins andere geworfen, Gamma. Alle Geschwister versammelten sich unter der großen Kuppel. Alle bis auf eins: Resth. Niemand sprach über ihn, nicht einmal Pea, die allein wußte, daß er sich auf die Baustelle der Düngemittelfabrik zurückgezogen hatte und uns genausowenig sehen wollte wie wir ihn. Es wurde sicher keine leichte Zeit für ihn, allein auf der Baustelle und selbst von Pea selten besucht, die sich noch vor der Geburt ihres Kindes von ihm trennte.

Bis zum heutigen Tag haben wir weder Gesetze noch gewählte Interessenvertreter. Aber die Diskussion darüber hat begonnen. Die nächsten Generationen müssen das Problem des Miteinanders in einer großen Gemeinschaft selbst lösen.

In den Bergen

Wir hatten uns am späten Vormittag auf den Weg gemacht. Als es allmählich Nacht wurde, waren wir bereits hoch in den Bergen. Durch die dichten Wolkenschleier am Horizont warf die untergehende Sonne letzte Strahlen zu uns herüber, färbte den Westhimmel rot und violett. Wir klommen nur noch langsam höher. Die Gelenke, auch die Füße und das Kreuz schmerzten. Gamma hatte sich bereits in den Nachmittagsstunden über die Last der Rucksäcke beklagt. Wir werden eben alt, dachte ich. Die kleinen Wehwehchen, das sind die untrüglichen Anzeichen. Gemächlich stapften wir über den sanft ansteigenden Fels, verweilten dann und wann und blickten hinüber zur Sonne, ihr offizieller Name Ra war längst außer Gebrauch geraten. Nur die Hälfte der flammenden Scheibe erhob sich noch über die unregelmäßige Silhouette des weitentfernten nächsten Gebirgszuges.

„Suchen wir uns einen Rastplatz“, schlug Gamma müde vor.

Ich überlegte kurz, dann sagte ich: „Es ist nicht mehr weit bis zum Gipfel, bis dorthin wollte ich, da finden wir ein geschütztes Eckchen.“

Wir nahmen unseren Marsch wieder auf. Der Boden war uneben, zerklüftet, steinig. Nackter Fels. Seit Stunden hatten wir keine Pflanzen mehr angetroffen. Staub und Sand ließen sich nur in Spalten und Ritzen finden. Und an den scharfen Felskanten hatte ich mir die Finger aufgerissen.

Meine Gedanken wanderten zurück. Der Ausflug in die Berge war Gammas Idee gewesen. „Wir haben uns immer nur beeilt“, hatte sie gesagt, „und wir sind stets von einem Projekt zum nächsten gerannt. Jetzt hast du nur den Schiffbau im Sinn. Aber der kann ein paar Tage warten. Beth, wir sollten gründlicher leben.“

Ich hatte sofort zugestimmt. Die Streitigkeiten mit Resth und die aufreibenden Diskussionen um den Schiffbau hatten mich zermürbt. Eine Woche mit Gamma in den Bergen würde mir helfen, Abstand zu gewinnen.

Aber wie macht man das, die Gegenwart bewußt erleben, den heutigen Tag genießen? Wir hatten das nie gelernt, nur gezwungenermaßen hatten wir Arbeitspausen eingelegt, voller Ungeduld und Unmut. Und nun? Ich wußte, es kam darauf an, die Dinge um mich nicht nur unter dem Blickpunkt der Nützlichkeit zu sehen, nicht ausschließlich an die jetzigen und zukünftigen Aufgaben zu denken, sondern all die unwiderbringlichen Sinneseindrücke des Augenblicks auf mich einströmen zu lassen. Die dazu nötige innere Ruhe fehlte mir noch.

Beim Schein des letzten Abendlichts erreichten wir den stumpfen Gipfel. Es wehte nur eine schwache Brise. Obwohl der Berg nicht sonderlich hoch war, konnten wir weit ins Land sehen: ein volles Rund Andymon. Wüsten und Felder lagen schon in tiefem Schatten und waren mit bloßem Auge nicht mehr zu unterscheiden.

In einer windgeschützten Nische brachte ich unsere Rucksäcke unter und begann die Schlafsäcke auszupacken. Laut Vorhersage würde es auch am Morgen nicht zu kühl werden. Ich blies die Luftmatratzen auf, ohne sie hätten wir auf den Felsspalten voller Buckel und Wellen nicht schlafen können. Das Buch, aus dem wir uns bei der nachmittäglichen Rast gegenseitig vorgelesen hatten, entglitt meiner Hand und rutschte in eine Spalte. Nur mit Mühe konnte ich es daraus hervorangeln.