„Ich bin aber gar nicht Dasza“, protestierte sie lautstark, während die anderen prusteten, „ich bin Nrada.“
Verwirrt blickte ich um mich, auch Gamma unterdrückte ein Lachen.
„Ihr müßt entschuldigen“, sagte ich, „ich bin wohl schon etwas verkalkt.“ Es war mir peinlich. Ein jeder auf Andymon kannte mich, und mir unterliefen bei den jüngeren Geschwistern immer wieder Verwechslungen. Glücklicherweise waren mir zumindest Laath und Bhriga bekannt.
„Vielleicht nennst du uns vorerst alle Baby“, schlug Nrada augenzwinkernd vor.
Ich lehnte ab. „Stellt euch vor, ich rufe in ein paar Jahren auf Andymon: He, Baby! Sofort habe ich all meine ehemaligen Lehrlinge auf dem Hals und stehe im dichtesten Getümmel.“
Sie lachten, ich hatte ihren Tonfall richtig getroffen. Nach und nach nahmen sie in den Formsesseln Platz. Ich setzte mich auf das Hauptsteuerpult und improvisierte einen Vortrag über die Zentrale, tastete dabei hin und wieder hinter mich, um ein Gerät vorzuführen.
Ich konnte ihnen viel zeigen. Vor zwei Tagen hatte Zeth das Solenoid abgefeuert. Die Magnetspulen hatten eine Salve Frachtcontainer und lose Bündel von Baugruppen in den Raum geschleudert. Sie würden bald als ein weitgefächertes Feld künstlicher Meteorite in den Konstruktionsbereich driften. Auf dem Radar waren sie längst zu erkennen, ein bunter, durchnumerierter Schwarm von Funken. Kleinstraketen standen bereit, sie einzufangen und computergesteuert in die richtigen Positionen zu bugsieren.
Mein Publikum wurde unruhig. „Beth, dreh dich mal um, da ist was.“
Im ersten Moment glaubte ich an einen Scherz, dann sah ich Gammas Gesicht. Ich wirbelte herum. Auf dem Hauptschirm, der die herannahenden Container zeigte, pulsierte rot in der rechten oberen Ecke der Lichtpunkt eines unbekannten Objektes. Nach der Hochrechnung würde eine Kollision mit dem Schiff in fünfundzwanzig Minuten erfolgen.
Während ich meine Hände über die Konsole fliegen ließ, um eine Fernanalyse einzuleiten und um bei gelösten Blockierungen gegebenenfalls selbst navigieren zu können, jagten sich meine Gedanken. Die kinetische Energie des Objektes genügte selbst bei der relativ hohen Geschwindigkeit wahrscheinlich nicht, um die Hülle des Schiffs zu durchschlagen. Aber bei dem Aufprall mußten Bruchstücke entstehen, die der eintreffenden Solenoidsalve entgegentrudeln würden. Eine Kettenreaktion war möglich: Ein Teil schlug gegen das nächste, zersplitterte, die Splitter trafen auf weitere Baugruppen — ein explodierendes Chaos das Resultat. Und wenn das Schiff manövrierte, bestand die Gefahr, daß sein Antriebsstrahl durch das Feld schweifte. Noch ehe ich begriff, daß der Computer längst reagiert hatte und eine der Abfangraketen sich auf Kurs befand, schossen weitere Fragen durch mein Hirn. Worum handelte es sich überhaupt? Meteorite waren äußerst rar im Andymonsystem.
Auf einem Display erschienen die Resultate der Fernerkundung: BEMANNTE FÄHRE. HERKUNFT GEDON.
Hinter meinem Rücken tuschelten sie: „Jetzt wird’s spannend!“
„Das Aufregendste ist schon vorbei“, erklärte Gamma, „das sind die ersten Sekundenbruchteile, in denen sich alles entscheidet.“
Endlich stand der Videokanal zur Fähre — als ob man sich nur zögernd entschloß, auf meinen Ruf zu antworten. Der Schirm öffnete den Blick auf acht Menschen, die bewegungslos in Formsesseln ruhten. Die komplette vierte Gruppe!
Der Schreck, der mir noch in den Gliedern steckte, verschaffte sich Luft. „Ihr macht mir vielleicht Scherze! Pirscht euch hier klammheimlich an, ohne Voranmeldung, ohne Kennung! Als ob ihr nicht- wüßtet, wie ihr euch im Kosmos zu benehmen habt. Und ihr, ihr Zusammengeschalteten, wollt uns Jahrhunderte voraus sein!“
Hinter mir erklärte seelenruhig Gamma: „Und hier habt ihr das klassische Beispiel eines überspannten Raumschiffkapitäns.“
Verdutzt drehte ich mich um. Gamma trat zu mir. „Frag sie erst ’ mal, was los ist.“
Ohne meine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich selbst an die vierte Gruppe: „Gimth, Daleta, was ist geschehen, was habt ihr?“
Einige Sekunden war es völlig still in der Zentrale. Die Abfangrakete kehrte in großem Bogen um. Der Schiffscomputer hatte die Steuerung der Fähre übernommen.
Dann sprach Daleta, mühsam, als müsse sie jedes Wort erst zerkauen: „Wir sind auseinander.“ Ein leichtes Heben ihrer linken Hand die erste Geste, die ich in der Fähre beobachtete, unterstrich den Satz. „Es ist tot.“
„Was?“ fragte ich. „Wieso? Was ist passiert?“
Sie schüttelte nur müde den Kopf.
„Hör auf, sie so auszufragen“, sagte Gamma, „siehst du nicht, wie fertig sie sind? Muß ein schöner Schock gewesen sein. Sie brauchen bestimmt unsere Hilfe.“
Ich versicherte Daleta, daß sie willkommen seien und wir sie auf jegliche Weise unterstützen würden. Dann unterbrach ich die Verbindung.
„Bestellt ihr für jede neue Gruppe Weltraumlehrlinge extra so ein UFO?“ Nrada blickte mich schelmisch an. Ich hab euch durchschaut, stand in ihrem Gesicht.
Gamma blieb ganz ernst und sagte mit stockender Stimme: „Ihr wißt, etwa in eurem Alter haben sie ihre Gehirne miteinander verbunden, um klüger zu sein als alle anderen. Jetzt sind sie zum erstenmal wieder einzeln, für sie muß alles fremd sein, eine veränderte Welt. Kommt mit zur Schleuse, sie müssen jeden Augenblick eintreffen.“
Ich stand noch eine Weile zwischen all den Displays, Instrumenten, Monitoren, Konsolen, Anzeigen der Zentrale. Was hatte dieses Wesen, das Monster von Gedon, auseinandergerissen? Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren. Nachempfinden ist eine Unmöglichkeit. Oder doch? Ich erinnerte mich an die schmerzende Einsamkeit, die es mir mitgeteilt hatte. Hieß das, all seine Versuche und Forschungen waren endgültig gescheitert? Das All leer? War es an seiner absoluten Verlassenheit zugrunde gegangen?
Ich blickte hinaus in den Kosmos. Langsam näherte sich das Feld der Baumaterialien. Ein neues Schiff im Werden. So mußte es einst vor vielen Jahrtausenden im Erdorbit ausgesehen haben, als das erste Schiff konstruiert wurde.
Das All ist nicht leer. Menschen bewohnen es.
Wiederbelebung
Alfa war sofort ins Schiff gekommen, als sie von der Ankunft der vierten Gruppe erfahren hatte. „Jemand muß ihnen helfen, wieder Mensch zu werden“, erklärte sie.
Für mich war es ein Rätsel, wie es die acht geschafft hatten, aus eigener Kraft mit der Fähre zum Schiff zu gelangen. Denn hier verhielten sie sich anfangs so lethargisch, daß sie ohne unser Zutun verhungert wären. In den ersten Tagen lagen sie nur im Naturpark auf der Wiese und stierten auf irgendeinen Punkt in der Luft, als würden sie die altvertraute Umgebung überhaupt nicht wahrnehmen. Dabei hatten wir sie extra nicht nach Andymon gebracht, damit sie dort anknüpfen konnten, wo vor über sechs Jahren ihr individuelles Leben endete. Alfa brachte ihnen dreimal am Tag geduldig das Essen in den Park und geleitete sie am Abend fürsorglich in ihre ehemaligen Zimmer, die wir mit Hilfe von Computeraufzeichnungen hergerichtet hatten.
Nach einer Woche verlangte Daleta eine sinnvolle Beschäftigung. Damit hatten die acht ihren tiefsten Punkt überwunden, und der Auftakt für ein aktiveres Leben war gegeben.
Gamma und ich betreuten Gimth, Alefth und Mega, während sich Alfa, Jota und Zeth um die anderen fünf kümmerten. Wir erzählten ihnen vom Aufbau der Siedlungen auf Andymon, von unseren nächsten Projekten und machten sie mit den neugeborenen Andymonen bekannt. Während Alefth und Mega zusehend aus ihrer Apathie herausfanden und sich aus unserer Obhut lösten, wurde Gimth für uns zum Problem. Er kannte nur eine Art von Aktivität: mir zu folgen. Dabei hatte ich ihn als besonders pfiffig in Erinnerung.