Als ich die Augen wieder aufschlug, war mein normaler Richtungssinn vergessen. Oben und Unten wechselten nach meinen Wünschen. Ich sah mich auf dem Boden eines tiefen Schachtes liegen und an den runden, vom Naturpark gebildeten Wänden vorbei auf die obere Öffnung schauen. In deren Mitte leuchtete das Große Licht unbeweglich in der Achse des Zylinders. Während ich mich aufrichtete, spürte ich wieder die Schwäche in meinen Gliedern. Ich schwitzte vor Angst und wäre am liebsten dort angewachsen. Nach langem Zögern wagte ich den schwierigen, gefahrvollen Abstieg. In der einsetzenden Dämmerung erreichte ich den sicheren Boden.
An den untersten Felsen gelehnt, betrachtete ich das Große Licht, wie es sich verfärbte und rötete, bis es schließlich bis auf ein kaum erkennbares fahles blaues Glimmen verblaßte. Dies war die künstliche Sonne, unter der ich aufwuchs, die meine Tage durch ihren Schein bestimmte. Ewiger Sommer herrschte in meiner kleinen Welt, der ewige Sommer meiner Kindheit.
Am nächsten Morgen, allein am Fuße des Felsens, hungrig und von Muskelschmerzen geplagt, vermißte ich meine Geschwister wie noch nie zuvor. Ich erkletterte einen Baum, um ein paar Früchte zu essen, nicht einmal die Schimpansen schauten mir zu. Eine Weile spielte ich in den Zweigen, sprach mit den bunten dummen Vögeln, die doch nur aufgescheucht davonflogen. Dann besann ich mich und kehrte zurück.
Den staunenden Geschwistern blieb ich die Antwort schuldig. Delth gegenüber hatte ich ein neues Selbstvertrauen gewonnen, das mich ihm ebenbürtig machte. Er spürte diese innere Kraft, die er nicht bezwingen konnte, da er deren Ursprung nicht kannte.
Ausflug ins Schiff
Die erlebnisreichen und immer wilderen Unternehmungen im Naturpark wurden uns nicht über, es kam keine Gleichförmigkeit auf, denn wir fanden oder erfanden täglich Neues, das unsere Aufmerksamkeit fesselte. Dabei fiel uns nicht auf, daß Guro seit Monaten unser Lernpensum erhöhte. Und ohne daß wir es gewahrten, nahte, so wie wir wuchsen, die Zeit ernsterer Betätigungen.
„Morgen werdet ihr unbekannte Räume kennenlernen“, sagte Guro, der uns zusammengerufen hatte. „Und dafür müßt ihr euch bekleiden.“
Er wies mit einer starren Geste auf acht bunte Stoffhäufchen, die auf der Wiese lagen. Neugierig stürzten wir zu ihnen, fanden Schilder mit unseren Symbolen daran.
„Ihr müßt eure Arme und Beine in die dafür vorgesehenen Öffnungen stecken“, erklärte Guro.
Eifrig probierten wir es. Ich hatte große Schwierigkeiten, verhedderte mich, fiel hin, kam mühsam wieder frei. Eta quietschte vor Vergnügen. Zeth stand mit ernsthaftem Gesichtsausdruck da, wendete seine Bekleidungsstücke um und um, suchte, so schien es, immer noch nach dem Eingang.
„Ihr müßt selbst herausfinden, wie man sich anzieht“, ermunterte uns Guro.
Ilona warf sich auf den Rücken und war schnell in ihre Sachen verknäult. Dann entdeckte Alfa das Prinzip der Hose und humpelte, sie mit den Händen am Bund haltend, von einem zum anderen, ihren Erfolg zu verkünden. Später vertauschten wir Hosen und Jacken, vermummten uns nach Kräften und brachen immer wieder in Lachsalven über unsere eigene Ungeschicklichkeit aus. Es war ein atemberaubendes, kompliziertes Spiel.
In meiner Erinnerung dehnt sich das Anziehen über viele kurzweilige Stunden. Die Kleidung wurde uns jedoch nach einer gewissen Zeit hinderlich. Schwerfällig - bedacht, das Errungene nicht zu zerstören - stolzierten wir auf und ab. Es kniff bald unter den Achseln, bald zwischen den Beinen. Auf meinem Rücken kribbelte es wie unverschämte Termiten.
„Es juckt“, beklagte sich Zeth und streifte seine Sachen so methodisch, wie er sie angezogen hatte, wieder ab.
„In den Räumen, die wir morgen besuchen, werdet ihr die schützende Hülle benötigen; dort ist es kühl“, sagte Guro.
Zeth nickte, akzeptierte das Unvermeidliche und übte noch eine geraume Weile.
So wie wir keinen Begriff von Nacktheit hatten vor diesem Tag, so lag uns der Gedanke fern, daß sich hinter Wänden und Felsen, unter den Seen und Grasböden etwas verbergen könne. Meinen Traum von der Unendlichkeit hatte ich damals vergessen, ich wollte von ihrem Schrecken nichts wissen.
Am Morgen nach unseren Ankleideübungen erwachten wir erwartungsfroh. Guro hatte uns unbekannte Räume versprochen — dafür stiegen wir auch, ohne zu murren, in die hinderliche Bekleidung. Wir hatten schnell gegessen und folgten Guro vor den vertrauten, oft bekletterten Papageienfelsen.
„Seht, hier ist ein Kontakt“, sagte Guro und schob auf bestimmte Weise seine Hand in eine Felsspalte. Atemlos schauten wir auf das Sesam-öffne-dich. Wie eine Tür klappte die fast senkrechte Felswand zur Seite. Helligkeit strahlte uns aus einem kleinen Raum entgegen, der den gewohnten Zimmern nur wenig glich.
Ich nutzte Delths und der anderen Zögern, glitt an Guro vorbei, und schon war ich drin. Seinen Zorn und vielleicht auch seine Furcht verbergend, kam Delth nach und flüsterte mir Worte zu, die ich nicht verstand. Mit den Geschwistern starrte ich auf die fremdartigen Figuren an den Wänden, die Handräder, die Kästen in Augenhöhe.
„Was ist das? Wozu ist das gut? Warum riecht es hier so? Wo…?“ Gamma überschwemmte Guro mit Fragen.
Verstohlen griff ich zu einem der Kästen.
„Wartet, bis ich euch den Mechanismus erklärt habe“, sagte Guro und legte ausführlich dar, wie man die Türen öffnen und schließen könne. Wir drängten uns heran, um es selbst zu probieren. Als die äußere Tür wieder fest verriegelt war, durften wir die fremde Welt des Schiffes betreten.
Die langen, oft nach oben gekrümmten Gänge und Korridore forderten unser Vorstellungsvermögen heraus. Sie waren schmal, schienen sich in der Entfernung noch zu verengen. Überall befanden sich diese seltsamen Kästen, diese Symbole, Tür reihte sich an Tür. Wir schwiegen beeindruckt, wagten nicht zu lärmen oder mit dem hallenden Echo zu spielen. Ich, der ich im Naturpark stets wußte, wo ich mich befand, verlor bald die Übersicht. Alles ähnelte einander, wiederholte sich. Wir hielten uns an Guro, hörten auf seine endlosen Erklärungen und getrauten uns nicht, ihn aus den Augen zu verlieren.
Nach einer unendlichen Stunde rasteten wir in seltsamen Dingern, Sesseln, und Guro erläuterte uns einen groben Plan der Räumlichkeiten. Sicherlich berücksichtigte er, daß wir so gut wie nichts bei dieser Überfülle verstanden, aber ein Anfang mußte gemacht werden.
„Dies also ist das Raumschiff. Ihr werdet die Herren und Meister all seiner Systeme, Maschinerien und Geräte sein. Für euch sind all die tausend Räume geschaffen, ihr werdet das Schiff steuern und lenken — wenn die Zeit dafür gekommen ist.“
So redete Guro mit uns. Ich verstand auf Anhieb nur eins: Nun müssen wir wie die armen Erdmenschen in einer Stadt wohnen, in einem Ameisenhaufen von Zimmern und Gängen. Wie sollen wir uns da zurechtfinden? Wenn wir uns hier verlaufen, finden wir keine Früchte. Wenn wir uns hier verletzen, kann uns keine Ramma helfen. Zum Versteckspielen war diese neue Welt gut geeignet, und interessant mochte es auch hier und da sein, wenn auch nicht so abwechslungsreich wie im Dschungel, aber leben konnte man hier nicht.
Erleichtert hörten wir Guro sagen: „So, das ist genug für heute.“
Guro dicht auf den Fersen bleibend, wanderten wir zurück in unsere heile, lebendige Naturparkwelt. Wir waren erschöpft und zerschlagen, nicht vom Laufen, sondern vom Sehen, vom Hören und Staunen. Doch war es erst Mittag. Wir schlangen Unsere leichte Mahlzeit hinunter und legten uns auf die Wiese am See und redeten, mutmaßten und phantasierten miteinander, trugen zusammen, was wir gesehen hatten oder gesehen haben wollten, wiederholten Guros Erklärungen und was wir davon verstanden hatten. Und während wir uns ereiferten, wurden die Korridore immer gewaltiger, länger, bizarrer, wucherten ineinander und durcheinander. Es war zum Fürchten. Und doch ging von ihnen ein eigentümlicher Reiz aus. Ihre groteske Unverständlichkeit verhinderte nicht, daß es mich in sie zog, daß ich mehr von ihnen sehen, riechen, erfühlen wollte. Die Unbequemlichkeit der Stoffhüllen nahm ich dafür gern in Kauf.