Wir hatten Andymon lange nicht mit dieser Deutlichkeit als erblühenden Planeten gesehen, und so kam es, daß ich mehr den Boden als die Armaturen beachtete, die mir vielleicht hätten verraten können, daß der Kopter, den wir aufs Geratewohl genommen hatten, von langen Flügen verschlissen und für eine Generalüberholung vorgesehen war. Wahrscheinlich gab es außer Gamma und mir, die wir erst vor einer Woche das Schiff verlassen hatten, niemanden in City, der nicht von der Reparaturbedürftigkeit des Kopters wußte.
Schon sahen wir am Horizont den Delth-Ozean graublau liegen, da heulte plötzlich der Motor auf, rote Warnsignale flackerten. Die Maschine bockte, so daß ich die Herrschaft über die Steuerung verlor. Verzögerungslos schaltete sich die Notautomatik ein.
„Festhalten!“ rief ich in das Stottern des Triebwerkes. Der Kopter kippte, schlingerte, taumelte. Grüner Boden, Wolken, Horizont, Berge trudelten ins Blickfeld. Rasend schnell stürzte Andymon auf uns zu, von Aussteigen konnte keine Rede sein. Die Automatik katapultierte die Wasserstofftanks hinaus. Als sie berstend aufschlugen, begannen sie zu brennen. Der Motor schwieg, und kurze Sekunden hatte ich den antriebslosen Kopter wieder in der Gewalt, konnte den Sturz verlangsamen, wodurch die horizontale Geschwindigkeit wuchs. Eine Felsgruppe, über die wir noch hinwegsetzten. Eine Strecke flachen Landes. Ein Knall, und das automatisch aufgeblasene Luftpolster füllte das Innere des Kopters, raubte mir die Sicht. Ein unheimliches, langgezogenes Kreischen und Knirschen. Ein gewaltiger Stoß, krachende Überschläge. Dann verlor ich das Bewußtsein.
Schmerzen, gleißende Sonnen von Schmerzen zerrissen mein Innerstes, ich schrie sie hinaus, aber es war, als hätte ich nie einen Mund besessen, kein Ton kam. Ich schrie wieder, dann versank ich in brennender Schwärze.
Nebel, die sich langsam zerteilten, Schemen von Licht und Schatten. Der rasende Schmerz existierte noch, aber er war in weite Ferne gerückt, gehörte einem Körperteil an, von dem ich mich gelöst hatte. Zerbrochen und starr lag ich da. Allmählich klärte sich mein Blick. Verknäulte Stangen nur eine Handbreit vom Kopf, weiße Fetzen des Luftpolsters, aufgerissen die durchsichtige Wandung des Kopters. Weite Meter dahinter Gamma, verkrümmt auf dem Boden sitzend, Blut im Haar, auf dem hellblauen Kleid.
„Kommt doch, Beth stirbt! Ein Träger hat ihn aufgespießt!“.
Ferne, ferne Worte: Beth stirbt. Ein Träger hat ihn aufgespießt. Worte, die zu einer anderen Welt gehörten wie der Schmerz, Lichtjahre weit. Wie die Augen, die sich nicht schlossen, der Mund, der sich nicht schreiend öffnete.
Meine Welt war dieses berauschende Bild: Gamma auf sonnenüberfluteter Wiese. Eine fremdartig langgezogene dunkelrote Orchidee im Haar, in sanften seidigen blauen Stoff mit Klatschmohntupfen gehüllt. Gamma.
„Kastell hat keinen Kopter bereit! Alefth von dort mit dem Rover unterwegs! Eine Stunde vielleicht!“
„Joth ist auf Ladym? Was sucht er ausgerechnet dort?“ „Ilona nicht erreichbar! Kontrolliert ein Gewässer! Badet vielleicht ohne Armband!“
„Fith fliegt von City! Er ist kein Arzt! Dreißig Minuten mindestens!“ „Was ist mit Mega? Sekunde!“
„Beth stirbt! Was soll ich machen! Beeilt euch!“
Ferne, ferne Worte: Beth stirbt. Als könnten sie mir gelten in dieser hellen, schönen, ergrünenden Welt. Einer Welt ohne Zeit. Mit Beth’ und Gamma’ aus dem neuen Schiff. Und Beth’’ und Gamma’’ aus dem neuen Schiff des neuen Schiffs. Und Beth’’’ und Gamma’’’. Und… Als könnten die Worte mir gelten: Beth stirbt.
„Antischock! Abbinden!“
„Zeig uns Beth!“
„Kastell bereitet OP vor!“
„Blutverlust!“
„Und du, Gamma?“
Du, Gamma, in meiner Welt tanzt du heran, seltsamer Tanz, der es erfordert, den rechten Arm steif zu halten, ungleiche Schritte zu machen. Wie jener zitronenfarbene Schmetterling könnte ich dich umkreisen…
„Hörst du mich, Beth?“
Nach zehn Tagen und zweifachem klinischem Tod hörte ich sie wieder. Und ich sah die helle Decke über mir und ihr Gesicht. Und als ich das nächstemal erwachte, sah ich durch das hohe Fenster blütentragende Bäume und hörte das brandende Meer in der Ferne, und ich roch die würzige, salzige Luft.
Nach drei Wochen zeigte mir Gamma zum erstenmal wieder ein paar Beiträge aus AN ALLE. Andymon drehte sich auch ohne mein Zutun. Die elfte Gruppe baute am Schiff ohne mein Zutun. Und sie hatten über notwendige Arbeitsteilung diskutiert und einen medizinischen Notdienst eingeführt, nicht ganz ohne mein Zutun.
Wieder und wieder die Erde suchen
„Du bleibst im Kastell, bis du völlig ausgeheilt bist, Beth. Dort hast du die nötige Ruhe.“
Dem Verdikt Ilonas konnte ich mich nicht widersetzen. Und in den ersten Wochen fehlte mir sogar die Kraft dazu. Stunden und Tage saß ich auf der langgestreckten Terrasse des Kastells, direkt über den Klippen, und beobachtete das bald sturmgepeitschte, bald wie ein Spiegel in der Sonne liegende Meer. Wie oft wurde das Buch zu schwer in meiner Hand, wie oft schlief ich ein!
„Kein Schiffbau, Beth! Keine Computerarbeit! Beeile dich lieber, gesund zu werden!“ Gamma hatte ihre Kopfverletzung gut überstanden, und der gebrochene Arm war bereits verheilt. Sie unternahm alles, um mir mein Rekonvaleszentenleben schön zu machen, schmückte unser Zimmer mit den vertrauten Bildern und mit Blumen. Grub in den Speichern des Schiffs Werke uralter Philosophen aus und legte sie mir als fertiggebundene Bücher unter das Kopfkissen. Sie lud in den richtigen Abständen Geschwister zu Besuch und ermittelte nach dem neuen Andymonkalender meinen Geburtstag, um Anlaß zum Feiern und Schenken zu haben.
Als ich noch nicht den kurzen Weg ins „Refektorium“, wie die Kastellbewohner ihren Speisesaal hochtrabend nannten, zurücklegen konnte, brachte sie mir, was mein Gaumen begehrte. Und manche der Leckerbissen waren sicher nicht auf dem allgemeinen Speisezettel zu finden. „Auch wenn du von Beth’ und Beth” in künftigen Schiffen redest, für mich gibt es nur einen Beth. Und der hat nur ein Leben. Jeder dieser Tage ist ein Stück davon.“
Zu mehr als einem Kuß auf ihre Stirn reichte meine Kraft noch nicht.
Jeder im Kastell, jeder aus der vierten, zehnten und dreizehnten Gruppe, behandelte mich überaus rücksichtsvoll und zuvorkommend. Ich schimpfte, ich sei kein rohes Ei und sie sollten meine Heilung nicht verzögern, indem sie mir auch den kleinsten Handgriff abnähmen. Zwecklos. Sie richteten selbst die Bautätigkeit in ihrer Siedlung so ein, daß kein Lärm entstand, während ich schlief.
Endlich kam der Tag, an dem ich das Kastell verlassen durfte. Gamma führte mich die steilen Stufen durch die Klippen hinunter. Die Sonne stand bereits hoch über dem Horizont und vertrieb die letzten Reste morgendlicher Kühle aus den Felsen. Unten am steinigen Strand empfing mich lautstark die dreizehnte Gruppe, die nach früher Arbeit eine Stunde Pausenschwimmen einlegte.
Langsam zog ich mich aus. Die nicht vom Gischt benetzten Steine waren angenehm warm an den Füßen. Gamma suchte eine glatte Stelle und breitete eine Decke aus, auf die ich mich setzte. Dann lief sie zum Kastell zurück, um einen Imbiß zu holen.
Das Wasser blitzte in der Sonne, vierzehn Jahre etwa waren die Geschwister alt, die sich im Gegensatz zu mir im Meer tummeln durften. Tauchen fiel ihnen wegen des hohen Salzgehaltes schwer. Und jeder Kratzer brannte höllisch. Aber sie kannten jeden Fels unter Wasser und liefen kaum Gefahr, sich zu verletzen.
Jath strich mit den Händen das Wasser vom Körper und setzte sich zu mir. „Ich wollte dich etwas fragen, Beth.“
„Ja?“
„Was glaubst du, wie sieht es jetzt auf der Erde aus?“