„Ich weiß es sowenig wie du“, sagte ich wahrheitsgemäß.
Wir alle hatten irgendwann angefangen, nach der wahren Erde zu suchen. Jath hatte dieses Alter nun erreicht.
„Aber du mußt doch eine Hypothese haben, du kennst das Schiff in-und auswendig. Du hast Jahre im Totaloskop verbracht…“
„Was soll ich dir sagen, Jath? Unser Schiff ist offensichtlich von friedfertigen Konstrukteuren entworfen worden, es hat nichts Aggressives an sich. Wir selbst entstammen allen Rassen der Erde, das weist auf einen gemeinschaftlichen Bau hin. Natürlich sind dies nur Indizien, die nichts beweisen. Ich kann eine thermonukleare oder ökologische Katastrophe nicht mit letzter Sicherheit ausschließen. Dann wäre das Schiff ein letzter Aufschrei, ein Kraftakt, die Sterne zu erreichen und dort einen neuen Versuch unter glücklicheren Voraussetzungen zu wagen und den Fortbestand der menschlichen Zivilisation zu sichern.“
Wohltuend heiß schien die Sonne auf die bleiche Haut meines Bauches und die häßlichen rosa Narben. Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf, legte mich zurück und schloß die Augen.
„Ich war einmal im Totaloskop“, sagte Jath langsam, „da passierte so eine Katastrophe… Ich war tot, noch ehe es richtig begann. Nur die Angst, die Panik und auch die Gleichgültigkeit vorher habe ich erlebt. Und jetzt, immer wenn ich an die Erde denke, habe ich einen ausgeglühten Planeten vor Augen. Verstehst du, Beth, das ist auch das wahrscheinlichste; das Schiff benötigte Jahrzehntausende, um hierherzugelangen, wenn die Menschheit noch existierte, hätte sie die Technik weiterentwickelt, und andere Schiffe hätten unseres überholt. Daß Andymon noch unbesiedelt war, beweist alles!“
Gedanken, mir seit langer Zeit vertraut und scheinbar so schlüssig. Aber die Wahrheit trägt den Mantel des Paradoxen.
„Du irrst dich“, sagte ich, „es gibt nun einmal gewisse physikalische Grenzen auch für die vollkommenste Technik. Ich meine damit nicht /nur die Lichtgeschwindigkeit, der sich das Schiff ja nicht einmal näherte, sondern eher Probleme des Materials, der Konstruktion von Antrieben, des Masseverhältnisses. Das ist das eine. Andererseits ist weder bewiesen, daß die Menschen für den Fortschritt immer neue Techniken benötigten, noch, daß nicht andere Schiffe Andymon längst hinter sich gelassen haben. Es gibt so viele Planeten zu besiedeln...“
„Vielleicht hast du recht. Trotzdem habe ich Angst um die Erde…“
Ich öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne.
„Weißt du, Jath, eigentlich bin ich fest davon überzeugt, daß eine Zivilisation, die Schiffe wie das unsrige baut, ihre inneren Konflikte überwunden hat. Würde ein Staat mit hohen Militärausgaben oder eine von Krisen zerrüttete Gesellschaft sich so phantastische Investitionen leisten, die nie einen Rückfluß, nie einen direkt verwertbaren Nutzen bringen?“
Meine Vorderseite brannte. Ich wälzte mich herum. Die dunklen Steine vor meinen Augen waren salzüberkrustet.
„Ich persönlich halte es für das wahrscheinlichste, daß noch vor dem Bau des ersten Schiffs, vor über zehntausend Jahren galaktischer Zeit, sich die friedliebenden und nicht ausschließlich an ihren eigenen Vorteil denkenden Menschen durchgesetzt haben. Glaubst du, unsere Geschwister würden oben auf Gedon an dem kleinen Schiff, der kosmischen Flaschenpost, bauen — ohne begründete Hoffnung?“
Ich hielt inne, noch nie hatte mir jemand ein derartiges Bekenntnis abverlangt. Soviel hatte ich nicht sagen wollen. Jath sollte sich seine eigene Meinung bilden, er verfügte über dieselben Fakten wie ich. Mit einem Stein kratzte ich Diagramme in die Felsplatte, auf der wir lagen.
„Natürlich kannst du auch spekulieren, Jath: Die Erde hat nie existiert, ist nur ein bizarrer Traum, ein Symbol für die Vergangenheit, eine Legende. Ist es nicht gleich, welche der Möglichkeiten zutrifft? Ändert es etwas?“
„Nein, für mich ist es nicht gleich, Beth, ich brauche die Erde…“
„Nun ja“ — sein Eifer brachte mich eine Sekunde aus der Fassung — „ich denke immer so: Gleich, wie es um die Erde steht, wir haben Andymon und sind für diesen Planeten verantwortlich. Und wir haben uns so zu verhalten, als seien wir die einzigen im Universum, als hinge allein von uns das Schicksal der Menschheit ab.“
Das waren meine Gedanken, doch ich hatte sie nicht ausgesprochen. Ich hatte geschwiegen und auf die mir vertraute Stimme Gammas gehört. Ganz flach legte ich mich auf die warme Decke und schloß die Augen.
Bevor mich die Monotonie der heranbrandenden Wellen in den Schlaf zog, dachte ich noch: Ferne Erde, ob wir es wollen oder nicht, du hältst uns alle in deinem Bann. Und obwohl ich alle Überlegungen über den Abflugort des Schiffs längst dutzendmal angestellt habe, werde ich nie aufhören, wie Jath nach dir zu suchen.
Endloses Meer
Ein abendlicher Windstoß fährt über die Terrasse und greift in die beschriebenen Seiten. Ich beschwere sie und blicke hinaus über die dunkle Weite des Meeres, dessen unablässiges Rollen das einzige Geräusch ist, das mich erreicht.
Blatt um Blatt habe ich in den vergangenen Wochen niedergeschrieben, was mir wichtig schien, jetzt bin ich fertig.
Wie sich in der Erinnerung die Proportionen wandeln. Mir ist, als hätte ich vor ein paar Tagen mit Guro und den Geschwistern den Naturpark durchstreift, als wäre vorgestern Delth in den entfesselten Gewalten eines schon gestern bezwungenen Planeten verschollen. In meiner Kindheit, unter den hochaufragenden Bäumen und kaum erklimmbaren Felsen des Schiffs, schien die Zeit stillzustehen, jeder Tag dauerte eine Ewigkeit. Doch jetzt? Das Schiff ist geschrumpft, seine Weite dahingeschwunden, und ein Tag jagt den nächsten. Habe ich nicht erst vor einer Stunde Papier und Stift ergriffen? Eine nur dem menschlichen Gehirn eigene Relativität verändert Raum und Zeit.
Ich lehne mich an die Brüstung, spüre den kühlen Stein. Feucht ist die Luft und riecht nach Salz. Kein Vogelruf belebt die Brandung — noch nicht.
Vor zwei Jahren habe ich begonnen, mir Aufzeichnungen über mein Leben und die Entwicklung unserer Gemeinschaft zu machen, sporadisch zuerst, in Form von Gedankensplittern. Die lange Zeit der Genesung, die mich vom kraftvollen Lebensrhythmus der Geschwister ausschloß, gab mir die Ruhe, sie zu ordnen.
Ja, ursprünglich sollten sie ein heimliches Geschenk für meinen Zwilling und Nachfahren Beth’ im neuen Schiff werden, ihm durch rechtzeitige Information manche Schwierigkeit, manchen Fehler, insbesondere den Konflikt mit Resth’ ersparen. Welche Illusion! Jeder muß seine Erfahrungen selbst machen. Und indem ich ihm die gleichen Startbedingungen gebe, erkenne ich die Notwendigkeit und Richtigkeit der Entwicklung unserer Gemeinschaft an.
Was ich geschrieben habe, ist nicht für Beth’ bestimmt, sondern für Beth, für mich. Habe ich mir nicht am Anfang Fragen gestellt? Ich habe mich ihrer Beantwortung, glaube ich, ein Stück genähert. Was bin ich? — Ich bin ein Teil der sich durch das All ausbreitenden menschlichen Gemeinschaft. Und ich bin ein lädierter Sterblicher, dem an manchen Tagen selbst der Schreibstift zu schwer ist, der es liebt, über das weite, offene Land oder Meer zu blicken — und der jetzt wünscht, daß sich die Schritte auf dem abbiegenden Teil der Terrasse wieder entfernen mögen.
„Noch ein paar Minuten, bitte, ich komme später zum Abendessen.“
Schwere Wolkenschichten lassen den feinen Trennstrich des Horizonts verschwinden. Himmel und Ozean verschmelzen im düsteren Farbspiel der Dämmerung.
Irgendwo da draußen, von mir aus gesehen vielleicht unter der massiven Kugel Andymons, befindet sich das alte Schiff — und der Keim des neuen. Jahrzehnte wird es noch dauern, bis wir es hinausschicken werden ins All. Das Leben in ihm wird erst erwachen, wenn das Schiff sich seinem Ziel nähert, jenem fernen Planetensystem, das wir schon jetzt ausgesucht haben. Welche Chance werden unsere kosmischen Nachfahren haben, sich dort einzurichten, zu überleben? Im günstigsten Falle treffen sie auf eine formbare Welt wie Andymon, können sich ihre eigene Erde schaffen. Im ungünstigsten finden sie nur kahle, atmosphärelose Steinwüsten, unangreifbar trotz all unserer Technologien. Dann werden sie in kosmischen Wohnzylindern leben müssen oder unter Kuppeln. Alles, was wir ihnen garantieren können, ist ein Planetensystem — mehr oder minder geeignetes Rohmaterial.