Aber war es damals wirklich nötig, daß wir uns bekleideten? Hätte nicht die Temperatur in den Räumen des Schiffs um wenige Grade erhöht werden können, um uns ein Fortsetzen der unbeschwerten Lebensweise zu ermöglichen? Ja, sicher. Aber irgendwann mußten wir uns an Kleidung gewöhnen, nicht nur für kosmische Ausflüge im Skaphander, sondern auch, weil Andymon eine rauhe Welt ist.
Labyrinth des Schiffs
Denke ich heute an das Schiff, so sehe ich die logische Anordnung seiner Sektionen auf den Konstruktionszeichnungen vor mir. Seine Teile fügen sich in ein einziges gigantisches und sinnvolles Aggregat von mathematischer Schönheit mit seinen klaren Linien und seiner präzisen Funktionstüchtigkeit.
Damals aber, nachdem wir zum erstenmal mit Guro den vertrauten Naturpark verlassen hatten, war es für mich ein fremdartiges, unverständliches, aber überwältigendes Chaos von seltsamen Geräten, Türen, die Geheimnisse verbargen, und Symbolen, die ich zwar lesen gelernt hatte, die mir aber doch nichts sagten. Wie hätte ich da widerstehen können?
Bei der ersten Gelegenheit warf ich Früchte in einen Beutel und ein paar Fladen dazu. An Kleidung dachte ich nicht. Eine Sekunde zögerte ich. Sollte ich ein Geschwister mitnehmen? Delth nicht. Und Alfa würde es nicht interessieren. Vielleicht Gamma?
Allein ging ich durch die Tür im Felsen, stand dann in dem mir schon bekannten Korridor.
Die Stimme Guros, die Stimme des Schiffscomputers, fragte: „Beth, wohin willst du? Wohin kann ich dich leiten?“
Ich blickte nach links und nach rechts, in beiden Richtungen stieg der Korridor langsam an. „Es ist gleich“, antwortete ich, „ich brauche deine Hilfe nicht.“
Ich entschied mich für rechts und schritt zügig aus. Bog dann in den erstbesten Quergang ein, er war nicht gekrümmt. So hätte ich sehr weit sehen können; doch nur in dem Gangsegment, in dem ich mich gerade befand, strahlten die langen Leuchtflächen in mildem gelblichem Ton. Ich lief auf das vor mir befindliche Dunkel zu, ohne es zu erreichen, das Licht eilte mir voraus.
In regelmäßigen Abständen kreuzten Korridore den Gang, Reihen von Türen unterbrachen die Monotonie der pastellgelben Wände, sie waren mattoliv und mattkarmin, mattkobaltblau und mattsiena. Weiße, selbstleuchtende Buchstaben verkündeten: 4384 TRAKT RB 6, 4382 TRAKT RB 6. Alle hundert Schritt lief ein zehn Zentimeter breites schwarzes Band um den Gang, hier konnten ihn Schotte versperren. Stahlgraue Intercomgeräte hingen zu beiden Seiten des Bandes. Ich wußte schon, wie man sie bedient, der kleine Bildschirm konnte mir die Geschwister zeigen oder auch Karten der Schiffsarchitektur. Doch ich wollte mich allein zurechtfinden.
In den Dreitausendern wurde mir der Gang zu langweilig. Da eine Glastür! TREPPE las ich. Auf meine bloße Annäherung hin glitt die Tür lautlos noch oben. Eine Flut von Licht mit vielen stumpfen Reflexen flammte auf. Ich stand am Rand einer gigantischen, nach oben und unten führenden Röhre. Die größten Bäume des Naturparks hätten ihren Durchmesser nicht überspannt. Etwa anderthalb Meter ragten die zerbrechlich wirkenden gläsernen Stufen von drei je um ein Drittel des Runds versetzten Treppen in sie hinein. Nach oben setzte sich die Röhre nur um drei Windungen fort. Doch nach unten! Ich hielt mich an dem blauglänzenden und sehr weichen, elastischen Geländer fest und schaute hinab. Zählte ein Dutzend Windungen bis zum Grund. Die Treppe gab unter meinen Schritten leicht nach, federte zurück. Fasziniert begann ich den Abstieg. Bedächtig legte ich die erste Runde zurück. Dann lief ich schneller, immer schneller, bis sich alles um mich drehte. Plötzlich wäre ich fast gestürzt: Die Treppe lief mit sachtem Schwung aus, endete in einem horizontalen Absatz.
War ich am Boden der Röhre angelangt? Schwer atmend lehnte ich mich gegen die Brüstung. Ja und nein. Die Treppen brachen ab, doch die Röhre führte noch ein kurzes Stück weiter und stieß dann auf eine ebenso große, waagerechte Röhre, die wie ein großer dunkler Tunnel wirkte. Ich konnte ein wenig in sie hineinschauen und staunte: Auch diese Röhren umrundeten Treppen — unsinnigerweise; niemand hätte auf ihnen gehen können.
Ich zog einen Fladen heraus, kaute an ihm und starrte auf die seltsamen Treppen. Sie erschienen mir so verrückt, daß ich selbst von Guro keine Erklärung erwartete. Erst Jahre später erfuhr ich, daß während der Konstruktion des Schiffs durch diese Röhren riesige Geräte im schwerefreien Flug an ihren Bestimmungsplatz manövriert worden waren.
Mich fröstelte. Meinen bloßen Körper überzog eine Gänsehaut. Durch eine Doppeltür gelangte ich in einen winzigen Raum. Die mir gegenüberliegende Wand wölbte sich nach innen. Sie klaffte auseinander und gab den Blick auf eine Kuppel mit acht Sesseln frei. Kaum hatte ich mich in einen der beiden vorderen gesetzt, schloß sich die Wand wieder.
Gleichzeitig mit dem Aufleuchten von Armaturen und von einem verworrenem Diagramm auf einem Bildschirm fragte Guro: „Wohin willst du, Beth?“
Seine Stimme erschreckte mich, ich stammelte: „Weiß nicht.“
Da preßte mich eine unsichtbare Kraft sekundenlang in den Sessel. Ich wollte halt schreien, doch ich brachte kein Wort heraus. Auf dem Bildschirm wanderte ein hellroter Punkt langsam durch das Diagramm.
Als der Druck nachließ, stand ich auf, ging zu der Stelle der sich über mir wölbenden Halbkugel, durch die ich hereingetreten war. Nichts öffnete sich. Ich klopfte. Zuerst nur zaghaft, dann schlug ich mit den Fäusten gegen den glatten, weichen Plast. Ich war gefangen. Von Guro festgesetzt.
„Eh, was soll das?“ schimpfte ich.
Ein sachter Ruck ließ mich nach rechts taumeln, dann nach links.
„Du setzt dich besser“, sagte Guros Stimme.
Trotzig blieb ich stehen. Plötzlich warf mich die unsichtbare Kraft zu Boden. Vor Schreck bewegungslos, lag ich da. Nach einigen Sekunden verschwand der Andruck, und wie zum Hohn öffnete sich die Wand. Ich rieb mir das Gesäß, schwang meinen Beutel über die Schulter und verließ den heimtückischen Lift.
Schotte, Glastüren, weite Tore, das Licht begleitete mich. Schilder, Türaufschriften: PHYS.-LAB. 11, REGENERATORTRAKT, TRANSFORMER…
Langsam wurden meine Füße schwer. Ich befand mich in einer riesigen Halle, nur den kleinsten Teil davon konnte ich überschauen. Überdimensionalen Bauklötzen gleich waren hier Container gestapelt. Große Netze aus dicken roten Trossen umspannten sie und teilten die Halle. Ich wollte einen Container öffnen, doch vergeblich kratzte ich an seiner matten Oberfläche. Enttäuscht setzte ich mich und aß. Der Fußboden, der Container, gegen den ich mich lehnte, alles fühlte sich kühl an.
Eine unnatürliche Stille herrschte hier. Und ich war einsam, ein winziges Insekt im weiten Schiff. Ich schluckte den letzten Bissen runter, dann sagte ich vorsichtig: „Hallo.“
Nicht einmal ein Echo erklang. Ich wiederholte den Ruf, nun schon lauter. Alles blieb still. Ich erhob mich und schrie aus Leibeskräften: „Haaallooo!“
Der Schrei versickerte in der Weite. Doch gleich darauf leuchtete neben dem Tor, durch das ich die Halle betreten hatte, ein kleiner Bildschirm rot auf, und über die geringe Distanz konnte ich Guros Stimme vernehmen: „Suchst du jemanden, Beth? Benötigst du etwas, Beth?“