Alle diese Arbeiten brachten den Bauern einigen Wohlstand ein, und als Folge davon herrschte auf dem Schloß Überfluß an Lebensmitteln. Man hatte sogar einen Teil der Steuern bezahlen können, doch das Leben des Adelssitzes änderte sich kaum. Noch immer trieben sich die Hühner in den Sälen herum, die Hunde beschmutzten ungehindert die Fliesen, und der Regen tropfte in die Schlafzimmer. Madame de Sancé hatte rote Hände, weil sie keine neuen Handschuhe kaufen konnte. Josselin, der Hasen und Mädchen jagte, glich immer mehr einem Wolf und der in seine Lehrbücher vertiefte Raymond einer heruntergebrannten Kerze.
Nur die Kleinsten, die sich in die Wärme der Küche und der Ammenbrust drängten, klagten nicht. Aber Madelon weinte häufig und wurde trübsinnig; auch für sie wäre es gut gewesen, das alte Schloß zu verlassen. Angélique nahm sie unter ihre Fittiche, hielt sie nächtelang in ihren Armen. Madelon wußte, daß Angélique sehr stark war und sich weder vor den Wölfen noch vor den Gespenstern fürchtete.
Eines Wintertags, als Angélique am Fenster dem Regen zuschaute, sah sie mit Verblüffung, daß zahlreiche Reiter und rüttelnde Kutschen in den morastigen Weg einbogen, der zur Zugbrücke führte. Lakaien in Livreen mit gelben Ärmelaufschlägen ritten vor den Wagen und einem Fuhrwerk her, das mit Gepäck, Zofen und Dienern besetzt zu sein schien.
Schon sprangen die Kutscher von ihren hohen Sitzen, um die Gespanne durch den engen Torweg zu führen. An der Rückseite der ersten Kutsche postierte Lakaien stiegen ab und öffneten die Wagenschläge, deren lackglänzende Flächen rötliche Wappen trugen.
Angélique flog über die Turmtreppe hinunter und erschien im gleichen Augenblick am Portal, als ein prächtig aussehender Edelmann über den Pferdemist im Hof stolperte, wobei sein Federhut zu Boden fiel; ein heftiger Stockschlag über den Rücken eines der Lakaien und eine Flut von Flüchen begleiteten diesen Zwischenfall.
Auf den Spitzen seiner eleganten Schuhe von Pflasterstein zu Pflasterstein hüpfend, erreichte der Edelmann schließlich das Portal, wo Angélique und einige ihrer kleinen Brüder und Schwestern ihn musterten. Ein Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, der womöglich noch auserlesener gekleidet war, folgte ihm.
»Beim heiligen Dionysius, wo ist mein Vetter?« brach der Ankömmling aus und warf einen herausfordernden Blick um sich.
Dann bemerkte er Angélique und rief:
»Da ist ja das Porträt meiner Kusine de Sancé aus der Zeit ihrer Heirat, als ich ihr in Poitiers begegne-te. Erlaube, daß ich dich umarme, Kleine, als der alte Onkel, der ich bin.«
Er hob sie in seine Arme und küßte sie herzhaft. Wieder auf der Erde gelandet, mußte Angélique zweimal niesen, so stark war das Parfüm, mit dem die Kleider des Ankömmlings getränkt waren.
Sie trocknete sich die Nasenspitze mit ihrem Ärmel ab, wobei ihr blitzartig bewußt wurde, daß Tante Pulchérie sie deswegen gescholten hätte, errötete jedoch nicht, denn sie kannte weder Scham noch Verlegenheit.
Liebenswürdig erwies sie dem Besucher, in dem sie längst den Marquis du Plessis de Bellière erkannt hatte, ihre Reverenz. Dann trat sie auf ihren jungen Vetter Philippe zu, um ihn zu küssen. Der wich einen Schritt zurück und warf einen entsetzten Blick auf den Marquis.
»Herr Vater, bin ich verpflichtet, diese ... äh, diese junge Person zu küssen?«
»Gewiß doch, Grünschnabel, nütze es aus, solange dazu Zeit ist!« rief der vornehme Herr und lachte laut.
Vorsichtig berührte der Jüngling Angéliques runde Wangen mit seinen Lippen, zog darauf ein gesticktes, übermäßig parfümiertes Taschentuch aus seinem Wams und wedelte damit vor seinem Gesicht herum, als wolle er Fliegen verjagen.
Baron Armand, bis zu den Knien verschmutzt, eilte herbei.
»Herr Marquis du Plessis, welche Überraschung! Weshalb habt Ihr mir keinen Boten geschickt, um mir Euer Kommen zu melden?«
»Offen gestanden, Herr Vetter, ich hatte die Absicht, mich direkt nach Schloß Plessis zu begeben, aber unsere Reise ist nicht frei von Mißgeschick gewesen: Wir haben in der Gegend von Neuchaut einen Achsenbruch gehabt. Verlorene Zeit. Es wird Nacht, und wir sind durchgefroren. Als wir an Eurer Besitzung vorbeikamen, fiel mir ein, wir könnten Euch ohne alle Umstände um Gastfreundschaft bitten. Wir haben unsere Betten und unsere Reisekoffer dabei, welche die Diener in den Zimmern aufstellen werden, die Ihr ihnen anweist. Und wir werden so das Vergnügen haben, uns unverweilt zu unterhalten. Philippe, begrüße deinen Onkel de Sancé und die ganze charmante Truppe seiner Erben.«
Solchermaßen angeredet, trat der schöne Jüngling mit resignierter Miene vor und neigte tief seinen blonden Kopf zu einer Begrüßung, die angesichts des rustikalen Äußeren desjenigen, dem sie galt, etwas übertrieben wirkte. Dann küßte er fügsam die dicken und schmutzigen Wangen seiner jungen Verwandten, worauf er abermals sein Spitzentaschentuch hervorzog und es mit hochmütiger Miene vor die Nase hielt.
»Mein Sohn ist ein rechter Höfling, der an das Land nicht gewöhnt ist«, erklärte der Marquis. »Er versteht nur, auf der Gitarre zu klimpern. Aber man kommt in Eurer Halle vor Kälte um, mein Lieber. Kann ich meine reizende Kusine begrüßen?«
Der Baron äußerte, er vermute, daß die Damen sich beim Anblick der Equipagen in ihre Gemächer gestürzt hätten, um sich umzukleiden, daß jedoch sein Vater, der alte Baron, erfreut sein werde, die Gäste zu sehen.
Angélique bemerkte den verächtlichen Blick, den ihr junger Vetter auf den verwohnten, düsteren Salon warf. Philippe du Plessis hatte sehr helle blaue Augen, die aber kalt wie Stahl wirkten. Der gleiche Blick, der die verblichenen Tapeten, das kümmerliche Feuer im Kamin und sogar den alten Großvater mit seiner altmodischen Halskrause gestreift hatte, wandte sich nach der Tür, und die blonden Brauen des Jünglings hoben sich, während sein Mund sich zu einem spöttischen Lächeln verzog: Madame de Sancé trat in Begleitung Hortenses und der beiden Tanten ein. Sie hatten gewiß ihre Staatskleider angelegt, aber die schäbige, längst aus der Mode gekommene Pracht schien auf den Jungen lächerlich zu wirken, denn er begann in sein Taschentuch zu prusten.
Angélique, die ihn nicht aus den Augen ließ, verspürte die größte Lust, ihm mit allen vieren ins Gesicht zu springen. War nicht vielmehr er selber lächerlich mit all seinen Spitzen, den wehenden Bändern auf der Schulter und den von der Schulter bis zu den Handgelenken aufgeschlitzten Ärmeln, die das feine Leinen des Hemdes sichtbar machen sollten?
Sein schlichterer Vater verneigte sich vor den Damen, wobei er mit der schönen, gekräuselten Feder seines Hutes die Fliesen fegte.
»Verehrte Kusine, verzeiht meine Formlosigkeit und meinen bescheidenen Aufzug. Ich falle mit der Tür ins Haus und bitte Euch um die Gastfreundschaft einer Nacht. Dies hier ist mein Ritter Philippe. Er ist gewachsen, seitdem Ihr ihn zum letzten Male saht, aber es ist darum doch kein leichteres Auskommen mit ihm. Ich werde ihm binnen kurzem eine Obristenstelle kaufen; die Armee wird ihm guttun. Die Hofpagen von heutzutage kennen keine Disziplin.«
Die stets höfliche Tante Pulchérie schlug vor: »Ihr nehmt doch gewiß etwas zu Euch. Most oder dicke Milch? Ich sehe, Ihr kommt von weither.«
»Danke. Wir nehmen gern einen Schluck Wein mit frischem Wasser versetzt.«
»Wein ist keiner mehr da«, erklärte Baron Armand, »aber ich werde eine Magd zum Pfarrer schicken, um welchen zu holen.«