Выбрать главу

Die Kleine ist verängstigter als ein Hase wegen der Geschichten, die die Amme erzählt. Hortense ebenfalls, aber sie sagt nichts, denn sie ist die Älteste. Nur Angélique genießt diese Angst in höchster Wonne. Das Leben besteht aus Geheimnissen und Entdeckungen. Man hört die Mäuse im Holzwerk nagen, die Käuzchen und die Fledermäuse in den Dachstühlen der beiden Türme flattern und scharfe Schreie ausstoßen. Man hört die Windhunde in den Höfen jammern und einen Maulesel seinen Schorf am Fuß des Mauerwerks reiben.

Und zuweilen, in den Schneenächten, hört man das Heulen der Wölfe, die aus dem wilden Forst von Monteloup bis zu den bewohnten Stätten vorstoßen, oder auch an den ersten Frühlingsabenden den Gesang der Bauern aus dem Dorf, die im Mondschein den Rigodon tanzen ...

Eines der Gebäude des Schlosses Monteloup lag zum Moor hinaus. Es war der älteste Teil, erbaut durch den Vorfahr Ridouët de Sancé, der ein Gefährte Du Guesclins im 12. Jahrhundert gewesen war. Es wurde von zwei mächtigen Türmen mit Wehrumgängen aus Schindeln flankiert, und wenn Angélique mit Gontran oder Denis dort hinaufkletterte, machten sie sich ein Vergnügen daraus, in die Öffnungen zu spucken, durch welche die Soldaten des Mittelalters siedendes Öl auf die Belagerer gegossen hatten. Das Mauerwerk erhob sich auf einem kleinen Kalksteinhügel, hinter dem das Moor begann. Einstmals, zur Zeit der ersten Menschen, war das Meer bis hierher vorgedrungen. Als es wieder zurückwich, hatte es ein Netz von Bächen, Kanälen

und Tümpeln hinterlassen, das jetzt von Hecken und Weidengebüschen überwuchert war, ein Reich der Aale und Frösche, das die Bauern nur mit Kähnen durchquerten. Die Weiler und Hütten standen auf den Inseln des einstigen Meerbusens. Als der Herzog von La Trémoille, der sich auf seine Weltkenntnisse etwas zugute tat, eines Sommers als Gast des Marquis du Plessis durch diese Wasserlandschaft gefahren war, hatte er sie »das grüne Venedig« genannt.

Auf der Festlandseite bot Schloß Monteloup eine Fassade neueren Datums dar, die zahlreiche Fenster aufwies. Fast unmerklich trennte eine an verrosteten Ketten hängende alte Zugbrücke das Hauptportal von den Wiesen, auf denen die Maulesel weideten. Zur Rechten befanden sich der herrschaftliche Taubenschlag mit seinem Dach aus runden Ziegeln und eine Meierei. Die übrigen Vorwerke lagen jenseits des Grabens. In einiger Entfernung erblickte man den Kirchturm des Dorfs Monteloup.

Und dann begann der Wald in einem dichten Gewoge von Eichen und Kastanien. Durch diesen Wald konnte man, ohne je der geringsten Lichtung zu begegnen, beinahe bis zur Loire und nach Anjou gelangen, so einem der Sinn danach stand und man sich nicht vor Wölfen und Räubern fürchtete.

Der Wald von Nieul, der am nächsten lag, gehörte zum Besitz des Marquis du Plessis. Die Leute von Monteloup schickten ihre Schweineherden dorthin, und es gab darüber endlose Prozesse mit dem Verwalter des Marquis, dem Sieur Molines mit den gierigen Händen. Hier lebten auch ein paar Holzschuhmacher und Köhler, außerdem eine Hexe, die alte Melusine. Im Winter kam sie manchmal ins Dorf, um an den Türschwellen eine Schale Milch zu trinken, die sie mit getrockneten Kräutern gegen alle möglichen Krankheiten bezahlte.

Nach ihrem Beispiel pflückte Angélique Blumen und Wurzeln, die sie dann trocknete, zerrieb, in Säckchen tat und an einem verborgenen Ort aufbewahrte, den allein der alte Wilhelm kannte. War sie bei dieser Beschäftigung, konnte Pulchérie stundenlang nach ihr rufen, ohne daß sie sich zeigte. Pulchérie weinte zuweilen, wenn sie über Angélique nachdachte. Sie sah in ihr das Versagen nicht nur einer vernünftigen Erziehung, sondern auch ihres Stammes und ihres Adelsstandes, der infolge Verarmung und Mißgeschick all seiner Würde verlustig ging.

Bei Morgengrauen lief die Kleine mit fliegenden Haaren, mit Hemd, Mieder und einem verschossenen Rock fast wie ein Bauernmädchen gekleidet, ins Freie, und ihre kleinen Füße, zartgliedrig wie die einer Prinzessin, waren hart wie Horn, denn sie warf ihre Schuhe in das nächstbeste Gebüsch, um leichter gehen zu können. Rief man sie zurück, wandte sie kaum ihr rundes, von der Sonne übergoldetes Gesicht, in dem zwei blaugrüne Augen strahlten, von der Farbe jener Pflanze, die in den Sümpfen wächst und ihren Namen trägt. »Man müßte sie ins Kloster tun«, seufzte Pulchérie.

Doch der schweigsame, von Sorgen geplagte Baron de Sancé zuckte die Schultern. Wie sollte man die zweite Tochter ins Kloster tun, wenn es schon bei der ersten nicht möglich war, wenn er jährlich kaum viertausend Livres Einkünfte hatte und von diesen viertausend schon fünfhundert für die Erziehung seiner beiden ältesten Söhne bei den Augustinern von Poitiers bezahlen mußte?

Auf der Moorseite hatte Angélique Valentin, den Sohn des Müllers, zum Freund.

Auf der Waldseite war es Nicolas, eins der sieben Kinder eines Landarbeiters und bereits als Hirte im Dienste des Barons de Sancé.

Mit Valentin glitt sie im Kahn über die von Vergißmeinnicht, Minze und Angelika gesäumten Wasserwege. Valentin pflückte ganze Büschel dieser letzteren Pflanze, die so köstlich duftet. Dann verkaufte er sie an die Mönche des Klosters Nieul, die aus den Wurzeln und den Blüten einen Heiltrank bereiteten und aus den Stielen Zuckerwerk. Er bekam dafür Skapuliere und Rosenkränze, die er den Kindern der protestantischen Dörfer an den Kopf warf, worauf diese heulend davonliefen, als habe der Leibhaftige selbst ihnen ins Gesicht gespien. Seinem Vater, dem Müller, mißfiel dieses seltsame Treiben. Wenn er auch katholisch war, trat er doch für Toleranz ein. Und was mußte sein Sohn mit Angelikabüscheln handeln, da doch das Amt des Müllers auf ihn übergehen würde und er sich nur in der gemütlichen Mühle niederzulassen brauchte, die auf Pfählen am Rande des Wassers stand?

Aber Valentin war ein schwer zu durchschauender Bursche. Von kräftigroter Gesichtsfarbe und für seine zwölf Jahre von geradezu herkulischer Größe, stummer als ein Karpfen, hatte er einen unsteten Blick, und die Leute, die auf den Müller neidisch waren, nannten ihn einen Halbidioten.

Nicolas, der gesprächige, immer zum Lachen aufgelegte Hirte, ging mit Angélique Pilze, Brombeeren und Heidelbeeren sammeln. Er schnitzte ihr Flöten aus Nußbaumholz.

Die beiden Jungen beobachteten in tödlicher Eifersucht Angéliques Gunstbezeigungen. Sie war bereits so hübsch, daß die Bauern sie als die lebendige Verkörperung der Feen betrachteten, die den riesigen Dolmen auf dem Hexenfeld bewohnten.

Seit einer Weile horchte der alte Baron in die Richtung des Hofs, aus dem Rufe heraufdrangen, mit dem Gegacker verängstigter Hühner vermischtes Geschrei. Dann hörte man hastige Schritte und schließlich noch heftigere Rufe in Wilhelms Akzent. Es war ein strahlender Herbstnachmittag, und alle übrigen Bewohner des Hauses schienen draußen zu sein.

»Habt keine Angst, Kinder«, sagte der Großvater, »es ist irgendein Bettler, den man verjagt.«

Aber schon war Angélique auf die Freitreppe gerannt und rief: »Vater Wilhelm wird angegriffen, man will ihm etwas antun!«

Der Baron humpelte eilig hinaus, um einen Säbel zu holen, und Gontran erschien mit einer Hundepeitsche. Als sie am Portal anlangten, fanden sie den alten, mit seiner Hellebarde bewaffneten Diener vor und Angélique an seiner Seite. Der Gegner war nicht allzu weit entfernt. Er stand außer Reichweite auf der anderen Seite der Zugbrücke, fürs erste abgewehrt, aber noch nicht in die Flucht geschlagen. Er war ein großer, ausgehungert wirkender Bursche, der recht wütend zu sein schien. Doch zu gleicher Zeit bemühte er sich um eine gemessene und dienstliche Haltung.