»Wie seltsam das ist, Desgray! Dieser junge Mann ist ein Verwandter, ein Vetter von mir, der ein paar Meilen von unserm Schloß entfernt wohnte. Wir haben zusammen gespielt.«
»Und jetzt, da der kleine Vetter in der Schenke mit Euch spielte, wollt Ihr ihn schonen?«
»Vielleicht. Schließlich waren es ihrer dreizehn. Mit dem Marquis de Tormes ist die Rechnung beglichen.«
»Ist es nicht unvorsichtig von Euch, meine Liebe, dem Polizisten des Teufels alle Eure Geheimnisse zu erzählen?«
»Deswegen bekommt Ihr noch lange nicht heraus, wer die Pamphlete des Schmutzpoeten druckt, wer sie in Paris verbreitet und wie sie in den Louvre gelangen. Und im übrigen werdet Ihr mich nicht verraten!«
»Nein, Madame, Euch werde ich nicht verraten, aber ich werde Euch auch nicht täuschen. Diesmal entgeht der Schmutzpoet dem Galgen nicht!«
»Das werden wir sehen!«
»Ja, das werden wir leider sehen«, wiederholte er. »Lebt wohl, Madame.«
Nachdem er gegangen war, hatte sie alle Mühe, die Schauer zu bekämpfen, die sie überkamen. Der Herbstwind pfiff durch die Rue des Francs-Bourgeois, und der Sturm riß Angéliques Herz mit sich fort. Noch nie hatte sie einen solchen inneren Aufruhr erlebt. Beklemmung, Angst, Schmerz waren ihr vertraut, aber diesmal hatte sie eine stechende, tränenlose Verzweiflung übermannt, für die es keine Beruhigung, keinen Trost gab.
Audiger war verstörten Gesichts herbeigeeilt. Er hatte sie in die Arme genommen, und wie erloschen hatte sie den Kopf an seine kräftige Schulter gelehnt.
»Mein armer Liebling, das ist eine wahre Tragödie, aber Ihr dürft nicht mutlos werden. Fort mit dieser verzweifelten Miene! Ihr macht mir Angst!«
»Es ist eine Katastrophe, eine furchtbare Katastrophe! Wie soll ich jetzt, da die >Rote Maske< nicht mehr ist, zu Geld kommen? Die Zünfte gewähren mir keinen Schutz, im Gegenteil. Mein Vertrag mit Meister Bourgeaud ist nichtig geworden. Meine Ersparnisse werden bald erschöpft sein. Ich hatte erst kürzlich beträchtliche Summen für die Ausbesserung der Gaststube und für Wein-, Branntwein- und Likörvorräte ausgegeben. Sicher wird David von der Feuerversicherung etwas ersetzt bekommen, aber man weiß ja, wie knauserig diese Leute sind. Und in jedem Fall kann ich den armen Jungen, der sein ganzes Erbe verlor, nicht bitten, mir das wenige Geld zu geben, das er eventuell aus ihnen herauspreßt. Alles, was ich so mühsam aufgebaut habe, ist zusammengestürzt ... Was soll aus mir werden?«
Audiger schmiegte seine Wange an die weichen Haare der jungen Frau.
»Habt keine Angst, Liebste. Solange ich da bin, wird es Euch und Euren Kindern an nichts fehlen. Ich bin nicht reich, aber ich besitze genügend Geld, um Euch zu helfen. Und sobald mein Geschäft läuft, werden wir gemeinsam arbeiten, wie wir es verabredet haben.«
Sie riß sich aus seiner Umarmung los.
»Aber so habe ich es doch nicht gemeint«, rief sie aus. »Es ist nicht meine Absicht, als Magd bei Euch zu arbeiten ...«
»Nicht als Magd, Angélique.«
»Magd oder Ehefrau, das kommt auf dasselbe heraus. Ich wollte meinen Anteil zu diesem Geschäft beisteuern, gleichberechtigt sein .«
»Da also drückt Euch der Schuh, Angélique. Ich möchte fast meinen, Gott hat Euch für Euren Hochmut strafen wollen. Warum redet Ihr immer von der Gleichberechtigung der Frau? Das ist Ketzerei, mein Kleines. Wenn Ihr Euch mit dem Platz begnügtet, den Gott den Menschen Eures Geschlechts zugewiesen hat, würdet Ihr ohne Frage glücklicher sein. Die Frau ist dazu geschaffen, in ihrem Heim zu leben, unter dem Schutz ihres Gatten, den sie umsorgt, und mit den Kindern, die ihrer Verbindung entsprossen sind.«
»Welch liebliches Gemälde!« spöttelte Angélique. »Stellt Euch vor, ein so behütetes Dasein hat mich nie gelockt. Ich habe mich aus ganz persönlicher Neigung in dieses Getümmel gestürzt, mit meinen beiden Knirpsen auf dem Arm. So, und nun geht, Audiger! Ihr kommt mir mit einem Male so albern vor, daß mir richtig übel wird.«
»Angélique!«
»Geht, ich bitte Euch!«
Sie konnte ihn nicht mehr ertragen. Wie sie auch den Anblick der flennenden Barbe, des stumpfsinnigen David, der verstörten Javotte, ja selbst die Gegenwart der Kinder nicht mehr ertragen konnte, die instinktiv erfaßt hatten, daß ihr Universum bedroht war, und sich deshalb lärmender und launischer denn je aufführten. Sie gingen ihr alle auf die Nerven. Warum mußten sie sich so an sie klammern? Sie hatte das Steuer verloren, und der Sturm riß sie in seinen Wirbel, in dem die weißen Blätter der giftigen Pamphlete des Schmutzpoeten wie große Vögel flatterten.
In der trüben Voraussicht, daß auch er bald an die Reihe kommen würde, beschloß der Marquis de La Vallière, sich bei seiner Schwester im Hôtel de Biron, in dem Ludwig XIV. seine Favoritin untergebracht hatte, das Herz zu erleichtern. Die erschrockene Louise de La Vallière riet ihm indessen, sich dem König anzuvertrauen.
Was er auch tat.
»Ich kann es nicht verantworten«, bemerkte der Monarch kühl, »daß schöne Augen, die mir teuer sind, Tränen vergießen, wenn ich Euch allzu hart bestrafe. Verlaßt also Paris, Monsieur, und kehrt zu Eurem Regiment im Roussillon zurück. Wir werden den Skandal unterdrücken.«
Indessen war die Sache nicht so einfach. Der Skandal wollte sich nicht unterdrücken lassen. Man verhaftete, man folterte, und dennoch kam täglich ein neuer Name ans Licht. Weder der des Marquis de La Vallière noch der des Chevalier de Lorraine noch der des Bruders des Königs würde lange auf sich warten lassen. Alle Druckereien wurden durchsucht und überwacht. Die meisten Verkäufer des Pont-Neuf saßen im Châtelet. Aber selbst im Schlafzimmer der Königin fand man Pamphlete.
Das Kommen und Gehen im Louvre wurde kontrolliert, die Eingänge wurden wie die einer Festung bewacht. Alle Individuen, die in den frühen Morgenstunden den Palast betraten - Wasserträger, Milchmädchen, Lakaien -, wurden bis auf die Haut durchsucht. An den Fenstern und in den Gängen standen Wachen. Kein Mensch konnte den Louvre unbemerkt betreten oder verlassen.
»Nein, kein Mensch, aber vielleicht ein halber Mensch«, sagte sich der Polizist Desgray, der den Zwerg der Königin stark in Verdacht hatte, Angéliques Komplice zu sein.
Wie auch die Bettler an den Straßenecken ihre Komplicen waren, die unter ihren Lumpen ganze Stöße von Pamphleten verbargen, um sie auf den Stufen der Kirchen und Klöster zu verstreuen; wie die Banditen der Nacht ihre Komplicen waren, die einem zu später Stunde heimkehrenden Bürger, nachdem sie ihn weidlich ausgeplündert hatten, als »Gegengeschenk« und »zum Trost« ein paar von den Blättern zu lesen gaben; oder die Blumen- und Orangenverkäuferinnen vom Pont-Neuf samt dem Großen Matthieu, der seiner verehrlichen Kundschaft als Dreingabe Rezepte überreichte, die sich später als die neuesten Geistesprodukte des Schmutzpoeten erwiesen.
Wie schließlich der Große Coesre selbst, Cul-de-Bois, ihr Komplice war, in dessen Behausung Angélique in einer mondlosen Nacht drei Kisten voller Schmähschriften transportieren ließ, die die letzten fünf Opfer der Liste benannten. Daß die Polizei in die stinkenden Schlupfwinkel des Faubourg Saint-Denis vordringen würde, war kaum anzunehmen.
Trotz ihrer Wachsamkeit konnten die Büttel, Gerichtsbeamten und Häscher nicht überall sein. Die Nacht blieb allmächtig, und der Marquise der Engel gelang es mit Unterstützung ihrer »Leute«, die Kisten ohne Zwischenfall vom Universitätsviertel zum Palast Cul-de-Bois’ zu schaffen.
Zwei Stunden später wurde der Drucker samt seinen Gehilfen verhaftet. Ein im Châtelet eingesperrter Verkäufer, den der Henker gezwungen hatte, fünf Kessel kalten Wassers zu schlucken, hatte den Namen des Meisters verraten. Man fand bei dem Drucker die Beweise seiner Schuld, jedoch keinerlei Spuren weiterer Pamphlete. Nicht wenige gaben sich der Hoffnung hin, diese hätten gewiß noch nicht das Licht des Tages erblickt. Doch wurden die Optimisten kleinlaut, als am nächsten Morgen Paris von der Erbärmlichkeit des Marquis de Tormes erfuhr, der, statt den kleinen Oblatenverkäufer zu schützen, seine Genossen mit den Worten verlassen hatte: »Gute Nacht, Ihr Herren. Ich werde brav bei der Marquise de Castelnau schlafen.«