Der Marquis de Castelnau war über sein eheliches Mißgeschick durchaus im Bilde. Doch da es nun stadtbekannt geworden war, sah er sich genötigt, seinen Nebenbuhler zu fordern. Sie duellierten sich, und der Gatte wurde getötet. Während Monsieur de Tormes sich nach dem Waffengang wieder anzog, tauchte der Marquis de Gesvres auf und präsentierte ihm seinen Verhaftbefehl.
»Noch vier! Noch vier!« sangen die Straßenjungen und tanzten dazu die Farandole.
»Noch vier! Noch vier!« schrie man unter den Fenstern des Palais Royal.
Die Wachen zerstreuten die Menge mit Peitschenhieben. Zum erstenmal seit langem rief man ihnen Schimpfworte zu.
Erschöpft, von Versteck zu Versteck gehetzt, ließ sich Claude Le Petit bei Angélique nieder. Er war bleicher denn je, unrasiert, und sein Lächeln hatte sein Leuchten verloren.
»Diesmal ist es brenzlig. Ich spür’s, daß ich in den Maschen des Netzes hängenbleiben werde.«
»Sei still! Du hast mir selbst hundertmal gesagt, daß du nicht zu fassen bist.«
»Das sagt man so, solange man seine Kraft nicht eingebüßt hat. Aber dann entsteht plötzlich ein Riß, durch den die Kraft entweicht, und man sieht klar.«
Er hatte sich verletzt, als er durch ein Fenster geflüchtet war, dessen Scheiben er hatte einschlagen müssen.
Sie hieß ihn, sich aufs Bett zu legen, verband ihn und gab ihm zu essen. Er verfolgte ihre Bewegungen mit geschärfter Aufmerksamkeit, und es beunruhigte sie, daß sie in seinen Augen nicht den gewohnten spöttischen Schimmer entdeckte.
»Der Riß bist du«, sagte er unvermittelt. »Ich hätte dir nicht begegnen ... dich nicht lieben dürfen. Als du anfingst, mich zu duzen, begriff ich, daß du aus mir deinen Lakaien gemacht hast.«
»Claude«, sagte sie verletzt, »warum suchst du eine solche Erklärung? Ich . Ich spürte, daß du mir sehr nah warst, daß du alles für mich tun würdest. Aber wenn du willst, werde ich dich nicht mehr duzen.«
Sie setzte sich auf den Bettrand, nahm seine Hand und legte mit einer zärtlichen Geste ihre Wange an diese Hand.
»Mein Poet .«
Dieser da fiel ihr nicht lästig. Er machte sich los und schloß die Augen.
»Ach«, seufzte er, »gerade das ist es, was nicht gut für mich ist. Neben dir fängt man an, von einem Leben zu träumen, in dem du immer da bist. Man beginnt zu räsonieren wie ein Bürger. Man sagt sich: Ich möchte jeden Abend in ein warmes, helles Haus heimkehren, wo sie mich erwartet! Ich möchte sie jede Nacht in meinem Bett vorfinden, ganz warm und weich. Ich möchte einen Bürgerwanst haben, am Abend auf meiner Hausschwelle stehen und >meine Frau< sagen, wenn ich mit den Nachbarn von ihr spreche. Das ist’s, was man sich sagt, wenn man dich kennt. Und man findet allmählich, daß die Tische der Wirtshäuser zu hart sind, um drauf zu schlafen, daß es kalt ist zwischen den Hufen des Bronzepferds und daß man allein ist auf der Welt wie ein Hund ohne Herrn.«
»Du redest wie Calembredaine«, sagte Angélique nachdenklich.
»Auch ihm hast du geschadet, denn im Grunde bist du nichts als eine Illusion, eine kleine Dirne, flüchtig wie ein Schmetterling, ehrgeizig, unerreichbar ...«
Die junge Frau erwiderte nichts. Sie war jenseits aller Dispute und Ungerechtigkeiten. Das Gesicht Joffrey de Peyracs am Tag vor seiner Verhaftung war ihr erschienen und auch das Calembredaines kurz vor der Schlacht von Saint-Germain. Manche Männer finden in der Stunde der Gefahr den Instinkt der Tiere wieder, kraft dessen sie ihren Untergang wittern.
Diesmal durfte man sich nicht überraschen lassen: man mußte gegen das Schicksal kämpfen.
»Du wirst Paris verlassen«, entschied sie. »Deine Aufgabe ist beendet, da die letzten Pamphlete geschrieben, gedruckt und an sicherem Ort aufbewahrt sind.«
»Paris verlassen? Ich? Wohin soll ich denn gehen?«
»Zu deiner alten Amme, jener Frau im Juragebirge, die dich aufgezogen hat und von der du mir erzähltest. Bald kommt der Winter, dann sind die Wege verschneit, und niemand wird dich dort suchen. Du wirst mein Haus verlassen, weil es zu unsicher ist, und dich bei Cul-de-Bois verbergen. Heute um Mitternacht begibst du dich zur Porte Montmartre, die nie sonderlich streng bewacht wird. Dort findest du ein Pferd vor und im Sattelhalfter Geld und eine Pistole.«
»Einverstanden, Marquise«, sagte er gähnend und erhob sich, um aufzubrechen.
Sein fatalistischer Gehorsam beunruhigte Angélique mehr, als leichtsinniger Wagemut es getan hätte. War es die Erschöpfung, die Angst oder die Wirkung seiner Verletzung? Er verhielt sich wie ein Schlafwandler. Bevor er sie verließ, sah er sie lange an, ohne zu lächeln.
»Jetzt«, sagte er, »bist du sehr stark. Du kannst uns am Wege zurücklassen.«
Sie verstand nicht, was er meinte. Die Worte drangen nicht mehr in sie ein, und ihr Körper schmerzte, als habe man sie geschlagen.
Nur eine Sekunde sah sie der mageren dunklen Silhouette des Schmutzpoeten nach, der sich im fein niederrieselnden Regen entfernte, und wandte sich anderen Dingen zu.
Am Nachmittag ging sie zum Viehmarkt von Saint-Germain und kaufte ein Pferd, das sie einen guten Teil ihrer Ersparnisse kostete. Danach begab sie sich in die Rue du Val d’Amour, »borgte« sich von Beau-Garçon eine seiner Pistolen aus und verabredete, daß Beau-Garçon selbst, La Pivoine und einige andere sich gegen Mitternacht mit dem Pferd an der Porte Montmartre einfinden sollten. Claude Le Petit würde dort mit ein paar Vertrauensleuten Cul-de-Bois’ zu ihnen stoßen. Die »Früheren« sollten ihn dann auf dem Weg durch die Vorstädte eskortieren.
Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, wurde Angélique ein wenig ruhiger. Abends stieg sie ins Zimmer der Kleinen und danach in die Dachkammer hinauf, wo sie David untergebracht hatte. Der Junge hatte hohes Fieber, da seine mangelhaft versorgte Wunde eiterte.
Wieder in ihr Zimmer zurückgekehrt, begann sie die Stunden zu zählen. Die Kinder und die Dienstboten schliefen; der Affe Piccolo hatte an die Tür gekratzt und es sich dann auf dem Kaminrand bequem gemacht. Angélique starrte, die Arme auf die Knie gestützt, ins Feuer. In zwei Stunden, in einer Stunde würde Claude Le Petit außer Gefahr sein. Dann würde sie aufatmen können, sich zu Bett legen und zu schlafen versuchen. Es schien ihr, als wisse sie seit dem Brand nicht mehr, was Schlaf sei. - Von draußen drang das Geräusch von Pferdehufen herein, dann klopfte jemand an die Tür. Mit pochendem Herzen zog sie den Schieber des Gucklochs zur Seite.
»Ich bin’s, Desgray.«
»Kommt Ihr im Namen der Freundschaft oder der Polizei?«
»Öffnet mir. Dann werde ich’s Euch sagen.«
Sie schob die Riegel zurück und ließ ihn ein.
»Wo ist Sorbonne?« fragte sie.
»Ich habe ihn heute abend nicht bei mir.«
Sie bemerkte, daß er unter seinem durchnäßten Umhang einen roten, mit schwarzen Bändern besetzten und einem Spitzenkragen geschmückten Rock trug. Mit seinem Degen und seinen Sporenstiefeln wirkte er wie ein Edelmann aus der Provinz, der stolz darauf ist, sich in der Hauptstadt zu befinden.
»Ich komme aus dem Theater«, sagte er vergnügt. »Ich mußte mich dort bei einer Schönen eines reichlich delikaten Auftrags entledigen.«
»Ihr stellt nicht mehr den Pamphletisten nach?«
»Möglich, daß man erkannt hat, daß ich auf diesem Gebiet nicht mein Bestes gebe .«
»Ihr habt Euch geweigert, Euch mit der Angelegenheit zu befassen?«
»Nicht direkt. Man läßt mir ziemlich viel Freiheit, müßt Ihr wissen. Man weiß, daß ich meine eigenen Methoden habe.«