Er stand vor dem Feuer und rieb sich die Hände, um sie aufzuwärmen. Die schwarzen Stulpenhandschuhe und den Hut hatte er auf einen Schemel gelegt.
»Warum seid Ihr nicht Soldat in der Armee des Königs geworden?« fragte ihn Angélique, die das stattliche Aussehen des schäbigen Advokaten von ehedem bewunderte. »Ihr würdet eine gute Figur machen und niemand verdrießen . Wartet, ich hole Euch einen Krug Weißwein und Waffeln.«
»Nein, danke! Leider kann ich von Eurer liebenswürdigen Gastfreundschaft keinen Gebrauch machen, denn ich habe noch einen Weg in die Gegend der Porte Montmartre vor.«
Angélique zuckte zusammen und warf einen Blick auf ihre Uhr: halb zwölf. Wenn Desgray sich jetzt nach der Porte Montmartre begab, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Schmutzpoeten und seine Komplicen stoßen. War es Zufall, daß er sich dorthin begeben wollte, oder hatte dieser Teufelsbursche etwas gewittert? Nein, das war unmöglich! Sie hatte ihren Entschluß gefaßt und mit äußerster Schnelligkeit gehandelt.
Desgray griff wieder nach seinem Mantel.
»Schon?« protestierte Angélique. »Ich begreife Euer Verhalten nicht. Ihr erscheint zu unpassender Stunde, holt mich aus dem Bett und macht Euch alsbald wieder davon.«
»Ich habe Euch nicht aus dem Bett geholt. Ihr wart noch nicht entkleidet. Ihr träumtet vor Eurem Kamin.«
»Richtig . Ich habe mich gelangweilt. Kommt, setzt Euch.«
»Nein«, sagte er, während er die Schnur seines Kragens knüpfte. »Je länger ich mir’s überlege, desto mehr wird mir klar, daß ich gut daran tue, mich zu beeilen.«
»O diese Männer!« protestierte sie schmollend. Verzweifelt suchte sie nach einem Vorwand, ihn zu-rückzuhalten.
Es war weniger der Poet als vielmehr Desgray selbst, um den sie sich bei dem Gedanken an die Begegnung sorgte, die unfehlbar stattfinden würde, wenn sie ihn nach der Porte Montmartre gehen ließ. Der Polizist trug Pistole und Degen, aber die andern waren gleichfalls bewaffnet, und sie würden zahlreich sein. Überdies hatte er Sorbonne heute abend nicht bei sich. Auch aus anderen Gründen mußte unbedingt vermieden werden, daß sich mit der Flucht Claude Le Petits eine Schlägerei verband, in deren Verlauf ein Polizeihauptmann gar leicht den Tod finden konnte.
Doch schon verließ Desgray das Zimmer.
»Wie lächerlich!« dachte Angélique. »Warum hat Gott mich als Frau auf die Welt kommen lassen, wenn ich nicht einmal imstande bin, einen Mann eine halbe Stunde lang festzuhalten.«
Sie folgte ihm in den Hausflur, und als er die Türklinke ergriff, legte sie ihre Hand auf die seine. Die Zärtlichkeit der Geste schien ihn zu überraschen, und er zögerte einen Augenblick, als suche er nach dem Grund.
»Gute Nacht, Madame«, sagte er lächelnd.
»Es wird keine gute Nacht für mich werden, wenn Ihr geht«, flüsterte sie. »Die Nacht ist allzu lang . wenn man allein ist.«
Und während sie ihre Wange an seine Schulter lehnte, dachte sie: »Ich benehme mich wie eine Kurtisane, aber wennschon! Ein paar Küsse lassen mich Zeit gewinnen. Schließlich kennen wir uns schon so lange.«
»Wir kennen uns schon so lange, Desgray«, fuhr sie laut fort. »Habt Ihr nie daran gedacht, daß zwischen uns . daß .«
»Es ist nicht Eure Art, sich einem Mann an den Hals zu werfen«, sagte Desgray verblüfft. »Was ist mit Euch heute abend, meine Liebe?«
Doch seine Hand hatte die Türklinke losgelassen. Langsam, wie widerstrebend, umschloß er die Taille der jungen Frau, drückte sie aber nicht an sich. Er hielt sie eher wie einen leichten, zerbrechlichen Gegenstand, mit dem man nichts anzufangen weiß. Trotzdem schien es ihr, als ob das Herz des Polizisten Desgray ein wenig rascher schlüge. Wäre es nicht ganz amüsant, diesen gelassenen, immer beherrschten Mann ein wenig in Bewegung zu bringen?
»Nein«, sagte er schließlich als Antwort auf ihre un-beendete Frage, »nein, ich habe nie daran gedacht, daß wir zusammen schlafen könnten. Seht, mein Kleines, die Liebe ist für mich etwas sehr Gewöhnliches. Darin wie auch in vielem andern kenne ich keinen Luxus, und er reizt mich auch nicht. Die Kälte, der Hunger, die Armut und die Zuchtruten meiner Lehrer haben mich keine raffinierten Bedürfnisse gelehrt. Ich bin ein Mann der Schenken und Bordelle. Ich verlange von einem Mädchen, daß es ein gefügiges, handfestes, animalisches Wesen ist, ein bequemer Gegenstand, mit dem man nach Belieben umgehen kann. Kurz gesagt, meine Liebe, Ihr seid nicht die richtige Frau für mich.«
Sie hörte ihm belustigt zu, ohne ihre Stirn aus der Höhlung seiner Schulter zu nehmen. Auf ihrem Rücken spürte sie die warme Ausstrahlung seiner Hände. Nein, er war kein solcher Kostverächter, wie er es sich und ihr vormachen wollte. Eine Frau wie Angélique täuschte sich nicht. Allzu viele Dinge verbanden sie mit Desgray.
Lachend sagte sie: »Ihr redet, als sei ich ein unbequemer Luxusgegenstand. Laßt Euch nicht durch mein Kleid und meine Wohnung täuschen.«
»Oh, auf das Kleid kommt es nicht an. Aber Ihr werdet immer jenes Überlegenheitsgefühl behalten, das aus Euren Augen sprach, als man Euch eines Morgens einem gewissen ärmlichen und bürgerlichen Advokaten vorstellte.«
»Seitdem hat sich manches ereignet, Desgray.«
»Viele Dinge sind ewig. Beispielsweise die Arroganz einer Frau, deren Vorfahren mit Johann dem Guten an der Schlacht von Poitiers im Jahre 1356 teilgenommen haben.«
»Ihr wißt doch wirklich immer alles, was auf der Welt vorgeht, Polizist.«
»Ja ... Genau wie Euer Freund, der Schmutzpoet.«
Er nahm sie bei den Schultern und schob sie sanft, aber bestimmt von sich, um ihr in die Augen schauen zu können.
»Nun? Es stimmt doch, daß er um Mitternacht an der Porte Montmartre sein sollte?«
Sie erzitterte, doch dann überlegte sie sich, daß die Gefahr jetzt vorüber sein mußte. In der Ferne verhallten eben die letzten Zwölfuhrschläge einer Kirchenuhr. Desgray beobachtete das triumphierende Aufleuchten ihrer Augen.
»Ja ... ja, es ist zu spät«, murmelte er und schüttelte versonnen den Kopf. »Es haben sich heute nacht gar zu viele Leute an der Porte Montmartre eingefunden. Unter anderen der Herr Polizeipräfekt persönlich, nebst zwanzig Polizisten vom Châtelet. Wenn ich ein bißchen früher gekommen wäre, hätte ich ihnen vielleicht raten können, ihr Opfer anderwärts zu suchen . Oder vielleicht hätte ich dem unvorsichtigen Opfer bedeuten können, auf einem anderen Wege das Weite zu suchen? Aber jetzt glaube ich doch ... ja, ich glaube wirklich, es ist zu spät .«
Flipot ging am frühen Morgen aus dem Hause, um auf dem Milchmarkt die frische Milch für die Kinder zu holen. Angélique war noch einmal in einen kurzen, unruhigen Schlaf versunken, als sie ihn eilends zurückkommen hörte. Ohne anzuklopfen, steckte er seinen struppigen Kopf durch die Türspalte. Die Augen traten ihm aus den Höhlen.
»Marquise der Engel«, keuchte er, »ich hab’ auf der Place de Grève ... den ... den Schmutzpoeten gesehen.«
»Auf der Place de Grève .?« wiederholte sie. »Ist er verrückt geworden? Was macht er dort?«
»Er streckt die Zunge heraus«, erwiderte Flipot. »Man hat ihn ... gehenkt!«
»Ich habe mich gegenüber Monsieur d’Aubrays, dem Polizeipräfekten von Paris, verbürgt - und dieser hat sich seinerseits dem König gegenüber verbürgt -, daß die drei letzten Namen der Liste nicht an die Öffentlichkeit gelangen werden. Obwohl man den Verfasser dieser Pamphlete gehenkt hat, ist heute morgen der Name des Grafen de Guiche den Parisern zum Fraß vorgeworfen worden. Seine Majestät ist sich vollkommen klar darüber, daß die Hinrichtung des Hauptschuldigen die immanente Gerechtigkeit nicht davon abhalten wird, auf Monsieur, seinen Bruder, niederzufahren. Ich meinerseits habe dem König zu verstehen gegeben, daß ich den oder die Komplicen kenne, die das Werk des Pamphletisten fortführen werden. Und ich habe mich dafür verbürgt, daß die drei letzten Namen nicht erscheinen.«