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»Sie werden erscheinen!«

»Nein!«

Angélique und Desgray standen einander abermals gegenüber, an genau derselben Stelle, an der am Abend zuvor Angélique ihren Kopf an die Schulter des Polizisten gelehnt hatte. Ewig würde sie diese Geste verwünschen. Jetzt kreuzten sich ihre Blicke wie Degenklingen.

Das Haus war wie ausgestorben, abgesehen von der Gegenwart Davids, der verletzt und fiebernd da droben in der Dachkammer lag. Kein Straßenlärm war zu hören. Das Echo der Volkserregung drang nicht bis in dieses aristokratische Viertel. An der Schwelle des Marais verhallten die Rufe der Menge, die seit dem Morgen auf der Place de Grève vor dem Galgen vorbeidefilierte, an dem der Leichnam Claude Le Petits, des Schmutzpoeten vom Pont-Neuf, baumelte. Nachdem er fünfzehn Jahre lang Paris mit seinen Epigrammen und Gedichten überschwemmt hatte, konnte niemand glauben, daß er nun tatsächlich tot und gehenkt sei. Man machte einander auf seine blonden Haare aufmerksam, die im Winde wehten, und auf seine alten Schuhe mit den abgetretenen Nägeln. Und nicht wenige der Vorüberziehenden weinten. - In dem kleinen Haus der Rue des Francs-Bourgeois nahm der Kampf indessen seinen Fortgang, scharf, unerbittlich, doch in gedämpftem Ton, als argwöhnten Angélique und Desgray, daß die ganze Stadt ihren Worten lauschte.

»Ich weiß, wo die Blätter aufgestapelt sind, die Ihr noch verteilen lassen wollt«, sagte Desgray. »Ich kann die Mitwirkung der Armee erbitten, das Faubourg Saint-Denis überfallen und alle Übelgesinnten in Stücke reißen lassen, die sich der polizeilichen Durchsuchung des Hauses Messire Cul-de-Bois’ widersetzen sollten. Indessen gibt es ein einfacheres Mittel, um die Sache in Ordnung zu bringen. Hört mich an, kleine Törin, statt mich wie eine zornige Katze anzustarren . Claude der Poet ist tot. Es mußte so kommen. Zu lange hat er sein Gift verspritzt, und der König will sich nicht mehr vom Pöbel kriti-sieren lassen.«

»Der König! Der König! Immer kommt Ihr mir mit ihm. Früher wart Ihr stolzer!«

»Der Stolz ist eine Jugendsünde, Madame. Bevor man stolz ist, muß man wissen, mit wem man es zu tun hat. Zwangsläufig stieß ich mich am Willen des Königs. Beinahe wäre ich gescheitert. Der Beweis war erbracht: der König ist der Stärkere. So habe ich mich auf die Seite des Königs geschlagen. Meiner Ansicht nach solltet Ihr, Madame, die Ihr die Verantwortung für zwei kleine Kinder habt, meinem Beispiel folgen.«

»Schweigt, Ihr macht mich schaudern!«

»Habe ich nicht von einem Patent reden hören, das Ihr für die Herstellung eines exotischen Getränks oder etwas Ähnlichem zu erlangen wünscht? Und meint Ihr nicht, eine größere Summe, beispielsweise fünfzigtausend Livres, wäre willkommen, um Euch den Aufbau eines Geschäfts zu erleichtern? Oder eine Vergünstigung, Steuerbefreiung, was weiß ich? Eine Frau wie Ihr kann um Ideen nicht verlegen sein. Der König ist bereit, Euch zu gewähren, was Ihr als Gegenleistung für Euer endgültiges und sofortiges Schweigen fordert. Das wäre eine gute Art, den Schlußstrich unter die Tragödie zu setzen, aller Welt zum Nutzen. Den Polizeipräfekten wird man beglückwünschen, mich wird man befördern, Seine Majestät wird einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, und Ihr, meine Liebe, Ihr werdet, nachdem Ihr Euren kleinen Kahn wieder flottgemacht habt, einer glänzenden Zukunft entgegentreiben. Kommt, zittert nicht wie ein junges Füllen unter der Reitpeitsche des Dresseurs. Überlegt es Euch. In zwei Stunden hole ich mir Eure Antwort .«

In einem Karren hatte man den Drucker Gilbert und zwei seiner Gehilfen auf die Place de Grève gebracht. Drei Galgen waren für sie neben dem des Schmutzpoeten errichtet worden. Als Meister Aubin die Schlinge über den Kopf des Druckers warf, entstand am Rande des Platzes ein Lärm.

»Gnade! Der König gewährt Gnade!«

Meister Aubin zögerte. Es geschah zuweilen, daß noch am Fuße des Galgens die Gnade des Königs einen Verurteilten seinen geschickten Händen entwand. In Voraussicht solcher Sinneswandlungen seines Herrn hatte der Henker pünktlich seines Amtes zu walten, ohne sich jedoch zu überhasten. Er wartete also geduldig, daß man ihm den von Seiner Majestät unterzeichneten Gnadenerlaß vorwies. Aber niemand erschien, es war ein Mißverständnis gewesen.

Sobald kein Zweifel mehr bestand, machte sich Meister Aubin in aller Ruhe wieder ans Werk. Doch der Drucker, der noch wenige Augenblicke zuvor in sein Schicksal ergeben gewesen war, wollte nun nicht mehr sterben.

Er sträubte sich und schrie mit gellender Stimme:

»Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Ich appelliere an den König! Man will mich umbringen, während die Mörder des kleinen Oblatenverkäufers und des Bratkochs Bourgeaud in Freiheit sind. Man will mich aufknüpfen, weil ich mich zum Werkzeug der Wahrheit machte! Ich appelliere an den König! Ich appelliere an Gott!«

Das Gerüst, auf dem die drei Galgen aufgerichtet waren, ächzte unter dem Ansturm der aufgebrachten Menge. Vor den Steinwürfen und geschwungenen Knütteln mußte sich der Henker schleunigst unter die Estrade flüchten. Während man nach Brandfackeln lief, um Feuer an sie zu legen, preschten berittene Gerichtsbüttel auf den Platz. Mit Peitschenhieben gelang es ihnen, die Umgebung der Galgen zu räumen. Doch die Verurteilten waren inzwischen entkommen .

Stolz, drei seiner Söhne dem Strick entrissen zu haben, fühlte Paris den Geist der Fronde in sich auferstehen. Es erinnerte sich, daß es Anno 1650 der Schmutzpoet gewesen war, der als erster die giftigen Pfeile der »Mazarinaden« abgeschossen hatte. Solange er lebte und man sicher sein konnte, daß seine spitzige Feder sich jeden neuen Grolls annehmen würde, konnte man den alten Groll ruhig schlafen lassen. Aber nun, da er tot war, wurde das Volk von einer panischen Angst gepackt: des Sprechers beraubt, plötzlich geknebelt zu sein. Alles kam an die Oberfläche zurück: die Hungersnöte von 1656, von 1658, von 1662, die neuen Steuern ... Wie schade, daß der Italiener gestorben war. Man hätte seinen Palast anstecken können ...

Auf den Kais längs der Seine wurden Farandolen getanzt und dazu gesungen: »Wer ist’s, der den Oblatenverkäufer gen Himmel gesandt?«, während andere skandierten: »Morgen ... wissen wir’s! Morgen ... wissen wir’s!«

Aber weder am nächsten Morgen noch in den folgenden Tagen erlebte die Stadt das tägliche Aufblühen der weißen Blätter. Das Schweigen sank herab. Der Alpdruck entwich. Man würde niemals erfahren, wer den kleinen Oblatenverkäufer ermordet hatte. Paris begriff, daß der Schmutzpoet wirklich tot war.

Im übrigen hatte er’s selbst Angélique gesagt:

»Jetzt bist du sehr stark. Du kannst uns am Wege zurücklassen.«

Sie hörte ihn ohne Unterlaß diese Worte wiederholen. Und während langer Nächte, in denen sie keinen Augenblick Ruhe fand, sah sie ihn vor sich, wie er sie mit seinen hellen Augen betrachtete, die wie das Wasser der Seine funkelten, wenn sich die Sonne in ihrer Oberfläche spiegelte.

Drei Tage später erhob sie sich wieder nach einer schlaflosen Nacht von ihrem Bett und sagte sich: »Ich kann dieses Dasein nicht mehr ertragen.«

Gegen Abend sollte sie Desgray in seiner Wohnung aufsuchen, und von dort aus wollte er sie zu hochgestellten Persönlichkeiten bringen, die ein geheimes Abkommen mit ihr treffen würden. Es sollte den Abschluß der seltsamen Angelegenheit bilden, die man fürderhin die »Affäre des kleinen Oblatenverkäufers« nennen würde.

Angéliques Bedingungen waren angenommen worden. Als Gegenleistung würde sie die in drei Kisten verstauten Pamphlete ausliefern, mit denen die Herren von der Polizei vermutlich alsbald ein großes Freudenfeuer veranstalten würden.

Und das Leben würde von neuem beginnen. Angélique würde wieder viel Geld besitzen. Sie würde allein das Schokolade genannte Getränk herstellen und im ganzen Königreich verkaufen dürfen.