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»Zu Euren Diensten, Madame.«

Er nahm den versiegelten Brief entgegen, ging zu einer Schatulle, die auf einer Konsole stand, und tat ihn hinein.

Angélique wandte sich ab, um ihren Fächer und ihre Handschuhe aufzunehmen. Alles verlief so einfach - und auf die gleiche einfache Weise wollte sie ihren Weg gehen, ohne Eile, ohne innezuhalten. Sie brauchte nur im gegebenen Augenblick die Richtung zu ändern und dem Fluß zuzugehen ... Die Sonne würde sich auf dem Wasser der Seine spiegeln wie auf diesen schwarzweißen Fliesen.

Das Knarren eines Schlosses veranlaßte sie, den Kopf zu heben. Sie sah, wie Desgray den Schlüssel der Tür drehte, ihn abzog und gleichmütig in seine Tasche schob. Dann trat er lächelnd auf sie zu und sagte:

»Setzt Euch noch auf ein paar Minuten. Ich möchte Euch schon lange zwei oder drei Fragen stellen, und der Augenblick scheint mir dazu günstig zu sein.«

»Aber man wartet auf mich.«

>»Man< wird gern auf Euch warten«, sagte Desgray, noch immer lächelnd. »Im übrigen wird es, denke ich, rasch erledigt sein. Bitte, nehmt Platz.«

Er wies ihr einen Stuhl vor dem Tisch an und ließ sich ihr gegenüber auf der anderen Seite nieder.

Angélique war zu abgestumpft, um weitere Einwendungen zu machen. Seit ein paar Tagen waren ihre Handlungen nicht realer als die einer Schlafwandlerin: aufstehen, sich setzen, warten, wieder aufbrechen ...

Aber irgend etwas stimmte da nicht. Was eigentlich? Ach ja! Warum hatte Desgray die Tür abgeschlossen?

»Die Auskünfte, um die ich Euch bitten möchte, betreffen eine recht ernste Angelegenheit, mit der ich mich gegenwärtig befasse. Das Leben mehrerer Personen steht dabei auf dem Spiel. Es würde zu weit führen und wäre im übrigen nutzlos, wollte ich Euch die ganze Vorgeschichte auseinandersetzen.

Es genügt, wenn Ihr auf meine Fragen antwortet. Also .«

Er sprach sehr langsam und ohne sie anzusehen. Er beschirmte seine halbgeschlossenen Augen mit der Hand, und seine Gedanken schienen in eine ferne Vergangenheit zurückzuwandern.

»Vor annähernd vier Jahren wurden eines Nachts gelegentlich eines Einbruchs bei einem Apotheker im Faubourg Saint-Germain, dem Sieur Glazer, zwei berüchtigte Missetäter verhaftet. Wenn ich mich recht erinnere, trugen sie in Gaunerkreisen die Spitznamen Tord-Serrure und Prudent. Sie wurden gehenkt. Indessen äußerte der besagte Prudent im Verlaufe der Folterung gewisse Dinge, die ich kürzlich in einem Protokoll des Châtelet aufgezeichnet fand und die für meine gegenwärtigen Nachforschungen überaus bedeutsam sind. Sie betreffen das, was der Sieur Prudent bei dem Sieur Glazer im Verlaufe des Besuchs entdeckte, den er ihm in jener Nacht abstattete. Leider sind die Ausdrücke unbestimmt. Es ist ein Gefasel, das viele Dinge ahnen läßt und nichts beweist. Daher möchte ich Euch bitten, mich über diese Sache aufzuklären. Was gab es bei dem alten Glazer?«

Die Welt wurde immer unwirklicher. Das Zimmer um sie her schien plötzlich wie in einen Nebel gehüllt. Ein einziges Licht blieb, das der plötzlich weit geöffneten, rötlich schimmernden Augen Desgrays.

»Stellt Ihr mir diese Frage?« sagte Angélique.

»Ja. Was habt Ihr in jener Nacht bei dem alten Glazer gesehen?«

»Wie soll ich das wissen? Ich glaube, Ihr verliert den Verstand.«

Desgray stieß einen Seufzer aus, und das Licht seiner Augen erlosch hinter den gesenkten Lidern. Er nahm einen Gänsekiel vom Tisch und begann, ihn mechanisch zwischen seinen Fingern zu drehen.

»In jener Nacht war eine Frau bei dem alten Glazer, die die Einbrecher begleitete. Sie war nicht irgendeine, diese Dirne, sondern eine von den Gefährlichen, das habe ich feststellen können: die Marquise der Engel. Habt Ihr nie von ihr reden hören? Nein? Diese Frau war die Genossin eines berühmten Banditen der Hauptstadt: Calembredaines. Calembredaine .? Man hat ihn 1661 auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain geschnappt und gehenkt .«

»Gehenkt .?« rief sie aus.

»Nein, nein«, sagte Desgray sanft, »Ihr braucht Euch nicht so zu erregen, Madame ... Nein, man hat ihn nicht gehenkt. Tatsächlich ist er entronnen, indem er in die Seine sprang, und . er ist ertrunken. Man hat seine Leiche mit zwei Pfund Sand im Mund gefunden, aufgequollen wie ein Schlauch. Schade, ein so schöner Mann! Ich begreife, daß Ihr blaß geworden seid! Ich komme also auf die Marquise der Engel zurück, die würdige Genossin jenes bedauernswürdigen Sire, der, wie Euch sicherlich bekannt ist, ein berühmter Einbrecher und mehrfacher Mörder war, zur Galeere verurteilt, entwichen und so weiter ... Was sie betrifft, so war ihre Herrschaft kurz, aber beachtlich. Sie nahm an zahlreichen Einbrüchen und bewaffneten Überfällen auf Kutschen teil, wie etwa an dem auf die leibliche Tochter des Polizeipräfekten, sie hat mehrere Morde auf dem Gewissen, unter anderen den an einem Polizisten des Châtelet, dessen Bauch sie fein säuberlich aufgeschlitzt hat, das könnt Ihr mir glauben .«

Angéliques Lebensgeister erwachten aus ihrer Erstarrung. Sie wurde von einer panischen Angst erfaßt. Sie spürte, wie die Falle über ihr zusammenschlug. Ihr Blick heftete sich an das offene Fenster, durch das das Geräusch des Wassers hereindrang. Dort war die Seine! Der letzte Ausweg! Sie würde bis auf den Grund sinken. Endlich würde sie mit der Welt der Menschen abgeschlossen haben, dieser verhaßten Welt!

»Die Marquise der Engel ist mit Prudent in Glazers Haus gewesen. Sie hat gesehen, was er gesehen hat, und .«

Mit einem Satz war sie am Fenster. Doch Desgray kam ihr zuvor. Er packte sie bei den Handgelenken und stieß sie brutal auf den Stuhl zurück. Sein Gesichtsausdruck hatte sich gewandelt.

»O nein«, sagte er ärgerlich, »mit mir macht man nicht solche Scherze!«

Hämisch lächelnd beugte er sich über sie.

»Komm, hab dich nicht, raus mit der Sprache, wenn du nicht willst, daß ich handgreiflich werde. Was hast du bei dem alten Glazer gesehen?«

Angélique starrte ihn an. In ihrem verwirrten

Herzen kämpfte die Angst mit dem Zorn.

»Ich verbiete Euch, mich zu duzen.«

»Ich duze jedes Frauenzimmer, das ich vernehme.«

»Ihr habt wohl völlig den Verstand verloren?«

»Antworte! Was hast du bei Glazer gesehen?«

»Ich rufe um Hilfe.«

»Du kannst schreien, soviel du willst. Das Haus ist von Polizisten bewohnt. Sie haben Weisung, meine Wohnung nicht zu betreten, selbst wenn sie Mordio schreien hören.«

Der Schweiß begann an Angéliques Schläfen zu perlen.

»Ich darf nicht«, sagte sie sich, »ich darf nicht schwitzen. Nicolas hat immer gesagt, es sei ein schlimmes Zeichen. Es bedeutet, daß man bereit sei, >den Bissen zu schlucken< .«

Ein Backenstreich klatschte in ihr Gesicht.

»Willst du reden? Was hast du bei Glazer gesehen?«

»Ich habe Euch nichts zu sagen. Schuft! Laßt mich gehen.«

Desgray faßte sie unter den Ellbogen und zog sie behutsam in die Höhe, als sei sie eine Schwerkranke.

»Du willst nicht reden, mein Herzchen?« fragte er in unerwartet sanftem Ton. »Das ist aber gar nicht nett. Willst du denn unbedingt, daß ich böse werde?«

Er drückte sie fest an sich. Seine Hände glitten ganz langsam an den Armen der jungen Frau hinab und preßten ihre Ellbogen nach hinten. Plötzlich durchfuhr sie ein rasender Schmerz, und sie stieß einen schrillen Schrei aus. Es war, als habe ihr eine eiserne Zange beide Arme ausgerissen. So fest saß sie im Griff des Polizisten, daß sie bei der leisesten Bewegung zusammenzuckte.