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Er sah nachdenklich vor sich hin.

»Ich kenne Euch zu gut. Ich habe sofort gemerkt, daß etwas nicht stimmte, daß Ihr gefährdet wart, und daß es galt, rasch und wirksam zu handeln. In Anbetracht meiner freundschaftlichen Gesinnung werdet Ihr mir verzeihen, daß ich so unzart mit Euch umgegangen bin, nicht wahr, Madame?«

»Ich weiß noch nicht«, sagte sie in sanft grollendem Ton. »Ich werde es mir überlegen.«

Doch Desgray lachte und warf ihr einen warmen, besitzergreifenden Blick zu.

Die junge Frau fühlte sich gedemütigt, aber sie sagte sich zu gleicher Zeit, daß sie auf der Welt keinen besseren Freund besaß als ihn.

»Wegen der Auskunft«, fuhr er fort, »die Ihr mir ... so bereitwillig gabt, braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Sie ist mir wertvoll, aber das war nur ein Vorwand. Ich werde sie mir merken, aber ich habe bereits vergessen, wer sie mir erteilt hat. Einen Rat noch, Madame, wenn Ihr ihn einem bescheidenen Polizisten verstattet: Schaut immer geradeaus, wendet Euch nie nach der Vergangenheit um. Vermeidet es, in ihrer Asche zu stochern . jener Asche, die man in alle Winde verstreut hat. Denn jedesmal, wenn Ihr daran denkt, werdet Ihr Euch nach dem Tode sehnen. Und ich werde nicht immer da sein, um Euch rechtzeitig aufzurütteln .«

Maskiert und eines Übermaßes von Vorsicht wegen mit verbundenen Augen wurde Angélique von einer Kutsche, deren Rouleaus heruntergelassen waren, zu einem kleinen Haus im Vorort Vaugirard gefahren. Man nahm ihr die Binde erst in einem von ein paar Leuchtern erhellten Salon ab, in dem sich vier oder fünf gemessene, mit Perücken versehene Herren befanden, die über Angéliques Erscheinen einigermaßen ungehalten zu sein schienen. Ohne Desgrays Gegenwart hätte sie das Gefühl gehabt, in eine Falle geraten zu sein.

Doch die Absichten Monsieur Colberts, eines Bürgerlichen mit kühlen, strengen Zügen, waren ohne Falsch. Kein anderer als dieser Ehrenmann, der den ausschweifenden Lebenswandel und die Ausgaben der Leute vom Hofe verurteilte, konnte besser die Billigkeit der Forderungen ermessen, die Angélique an den König stellte. Auch Seine Majestät hatte es eingesehen, gezwungenermaßen freilich und unter dem Druck des durch die Pamphlete des Schmutzpoeten ausgelösten Skandals.

Angélique erfaßte rasch, daß es, wenn überhaupt, nur um der Form willen zu einer Diskussion kommen würde. Ihre moralische Position war ausgezeichnet.

Als sie zwei Stunden danach die erlauchte Gesellschaft verließ, nahm sie die Zusage mit, daß ihr für den Wiederaufbau der Schenke zur »Roten Maske« aus der königlichen Privatschatulle der Betrag von fünfzigtausend Livres übergeben werden würde. Das dem Vater des jungen Chaillou gewährte Patent für die Schokoladeherstellung sollte bestätigt werden. Diesmal lautete es auf Angéliques Namen, und es wurde ausdrücklich festgelegt, daß keine Zunft Forderungen an sie stellen dürfe. Schließlich forderte sie, gleichsam als Wiedergutmachung, daß man ihr eine Aktie der kürzlich gegründeten Ostindischen Gesellschaft übereigne.

Diese letzte Bedingung löste große Verwunderung aus. Aber die Herren der hohen Finanz erkannten, daß ihre Gesprächspartnerin sich vorzüglich auf ihre Sache verstand. Monsieur Colbert stellte murrend fest, die Forderungen dieser Person gingen zwar recht weit, sie seien jedoch vernünftig und wohlbegründet.

Am Ende wurde ihr alles zugestanden.

Dafür sollten sich die Sbirren Monsieur d’Aubrays, des Polizeigewaltigen, in ein Haus auf dem flachen Lande begeben, wo sie zwei heimlich dorthin geschaffte Kisten voller Pamphlete vorfinden würden, auf denen die Namen des Marquis de La Vallière, des Chevalier de Lorraine und des Bruders des Königs, Monsieur d’Orléans, verzeichnet waren.

Die nämliche Kutsche mit den herabgelassenen Rouleaus brachte sie nach Paris zurück. Während der Fahrt bemühte sich Angélique, ihren Optimismus und ihre Freude im Zaum zu halten. Es kam ihr unziemlich vor, so zuversichtlich und zufrieden zu sein, wenn sie sich vergegenwärtigte, aus welchen Schrecken dieser Triumph hervorgegangen war. Aber schließlich mußte es ja, wie die Dinge jetzt lagen, mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht eines Tages eine der reichsten Persönlichkeiten der Hauptstadt sein würde.

Und was konnte sie mit Geld nicht alles erreichen! Sie würde nach Versailles gehen, dem König vorgestellt werden, wieder den ihr zukommenden Platz einnehmen, und ihre Söhne würden wie junge Edelleute erzogen werden. Für den Rückweg hatte man ihr nicht die Augen verbunden, denn es war finstere Nacht. Sie fuhr allein, aber da sie sich völlig ihren Spekulationen und Träumen hingab, verging ihr die Zeit sehr rasch. Zu beiden Seiten der Kutsche hörte sie das Hufeklappern der Pferde einer kleinen Eskorte.

Plötzlich blieb der Wagen stehen, und eines der Rouleaus wurde von außen hochgezogen.

Im Schein einer Laterne erkannte sie Desgrays Gesicht, das sich zur Tür herabbeugte. Er saß zu Pferde.

»Ich verlasse Euch jetzt, Madame. Die Kutsche wird Euch nach Hause bringen. In zwei Tagen gedenke ich Euch zu überbringen, was Euch zukommt. Alles in Ordnung?«

»Ich denke schon. Oh, Desgray, ist das nicht herrlich? Wenn es mir gelingt, die Schokoladefabrikation in Gang zu bringen, ist mein Glück gemacht.«

»Es wird Euch gelingen. Es lebe die Schokolade!« sagte Desgray.

Er nahm seinen Hut ab, beugte sich herab und küßte ihr die Hand - vielleicht ein wenig länger, als die Höflichkeit es vorschrieb.

»Adieu, Marquise der Engel!«

Sie mußte lächeln.

»Adieu, Polizist!«

Zwei erfolgreiche Jahre waren vergangen, als Angélique eines Abends zu später Stunde gemeldet wurde, daß ein Geistlicher sie dringend zu sprechen wünsche. Im Flur fand die junge Frau einen Priester vor, der ihr sagte, ihr Bruder, der R. P. de Sancé, erwarte sie.

»Jetzt gleich?« - »Auf der Stelle, Madame.«

Angélique ging wieder hinauf, um einen Mantel und eine Maske zu holen. Seltsame Stunde für die Wiederbegegnung eines Jesuiten mit seiner verwitweten Schwester, der Witwe eines auf der Place de Grève verbrannten Hexenmeisters!

Der Priester erklärte, man habe nicht weit zu gehen. Nach ein paar Schritten standen sie vor einem Hause bürgerlichen Aussehens, einem ehemaligen kleinen Palais aus früheren Zeiten, das an das neue Kollegiengebäude der Jesuiten grenzte. Im Vestibül verschwand Angéliques Führer wie ein Gespenst. Sie stieg die Treppe hinauf, den Blick auf das obere Stockwerk gerichtet, von dem sich eine lange Gestalt herabbeugte, die einen Leuchter in der Hand hielt.

»Seid Ihr es, Schwester?«

»Ich bin’s, Raymond.«

»Kommt, ich bitte Euch.«

Sie folgte ihm, ohne Fragen zu stellen. Die heimlichen Bande der Sancé de Monteloup umschlossen sie alsbald von neuem. Er führte sie in eine durch ein Nachtlicht kümmerlich erleuchtete Zelle. Im Alkoven erkannte Angélique ein bleiches, zartes Gesicht, dessen Augen geschlossen waren.

»Sie ist krank. Sie wird vielleicht sterben.«

»Wer ist es?«

»Marie-Agnès, unsere Schwester.«

Nach kurzem Schweigen setzte er hinzu:

»Sie hat bei mir Zuflucht gesucht. Ich habe sie ruhen lassen, aber angesichts der Natur ihres Leidens bedurfte ich der Hilfe und der Ratschläge einer Frau. Ich habe an dich gedacht.«

»Daran hast du gut getan. Was fehlt ihr?«

»Sie verliert viel Blut. Ich glaube, sie hat eine Abtreibung an sich vornehmen lassen.«

Angélique untersuchte ihre junge Schwester. Sie hatte mütterliche, bestimmte Hände, die sich auf das Pflegen verstanden. Die Blutung schien nicht heftig zu sein, aber ihre Stetigkeit war nicht weniger besorgniserregend.

»Wir müssen die Blutung so rasch wie möglich zum Stillstand bringen, andernfalls stirbt sie.«