Выбрать главу

»Ich habe daran gedacht, einen Arzt kommen zu lassen, aber ...«

»Einen Arzt? Er wüßte nichts anderes zu tun, als sie zur Ader zu lassen, und das würde sie vollends zugrunde richten.«

»Leider kann ich hier keine neugierige und geschwätzige Hebamme einlassen. Unsere Ordensregel ist zugleich sehr frei und sehr streng. Man wird mir keinen Vorwurf daraus machen, daß ich heimlich meiner Schwester geholfen habe, aber ich muß jeden Klatsch vermeiden. Es ist mir kaum möglich, sie in diesem Haus zu behalten, das zum großen Seminar nebenan gehört. Du verstehst mich schon .«

»Sobald sie fürs erste versorgt ist, lasse ich sie in meine Wohnung bringen. Inzwischen muß nach dem Großen Matthieu geschickt werden.«

Eine Viertelstunde später galoppierte Flipot zum Pont-Neuf. Gelegentlich eines Unfalls des kleinen Florimond, der von einer Kutsche angefahren worden war, hatte sich Angélique schon einmal an den Großen Matthieu gewandt. Sie wußte, daß der Quacksalber ein blutstillendes Wundermittel besaß. Wenn es darauf ankam, war er auch bereit, Diskretion zu wahren.

Er erschien alsbald und versorgte seine junge Patientin mit aus langer Praxis resultierender Energie und Geschicklichkeit, wobei er nach seiner Gewohnheit vor sich hin sprach:

»Ach, kleine Dame, warum hast du nicht rechtzeitig von jenem Keuschheitselektuar Gebrauch gemacht, das der Große Matthieu auf dem Pont-Neuf feilbietet? Es ist aus Kampfer, Lakritze, Traubenkernen und Seerosenblüten hergestellt. Es genügt, morgens und abends zwei oder drei Pillen einzunehmen und danach ein Glas Buttermilch zu trinken, in dem man ein Stückchen glühendes Eisen gelöscht hat ... Kleine Dame, glaub mir, es gibt nichts Besseres, um die allzu stürmischen Begierden der Liebe zu dämpfen, die man so teuer bezahlt .«

Aber die arme Marie-Agnès war nicht fähig, diese nachträglichen Ratschläge anzuhören. Mit ihren durchsichtigen Wangen, ihren bläulichen Lidern, ihrem schmalen, zwischen dem üppigen schwarzen Haar fast verschwindenden Gesicht glich sie einer zarten, leblosen Wachsfigur.

Endlich konnte Angélique feststellen, daß die Blutung aufhörte und daß sich auf den Wangen ihrer jungen Schwester ein leichter rosiger Hauch verbreitete.

Der Große Matthieu empfahl sich, nachdem er Angélique einen Kräutertee übergeben hatte, den die Kranke stündlich trinken sollte, »um das Blut zu ersetzen, das sie verloren habe«. Er empfahl, mit dem Transport noch ein paar Stunden zu warten.

Als er gegangen war, setzte sich Angélique an den kleinen Tisch, auf dem ein Kruzifix stand, das einen riesigen Schatten an die Wand warf. Wenige Augenblicke später trat Raymond hinzu und ließ sich bedächtig ihr gegenüber nieder.

»Ich denke, wir könnten sie am frühen Morgen zu mir bringen lassen«, sagte Angélique. »Aber es ist wohl besser, noch ein wenig zu warten, bis sie wieder zu Kräften gekommen ist.«

»Warten wir«, stimmte Raymond zu.

Er neigte nachdenklich sein bleiches Gesicht, das nicht mehr ganz so hager war wie früher. Sein schwarzes glattes Haar fiel über den weißen Kragen seiner Sutane. Seine Tonsur hatte sich infolge beginnender Kahlköpfigkeit ein wenig erweitert, aber sonst war er kaum verändert.

»Raymond, woher hast du erfahren, daß ich im Hôtel du Beautreillis unter dem Namen Madame Morens lebe?«

»Es ist mir nicht schwergefallen, dich ausfindig zu machen. Ich bewundere dich, Angélique. Die furchtbare Geschichte, deren Opfer du gewesen bist, liegt nun weit zurück.«

»Doch nicht so sehr weit«, seufzte sie in bitterem Ton, »da ich mich noch nicht wieder in der Gesellschaft zeigen kann. Viele Adlige von niedrigerer Herkunft als ich betrachten mich als emporgekommene Schokoladenhändlerin. Ich werde weder an den Hof zurückkehren noch nach Versailles gehen können.«

Er schaute sie durchdringend an. Er kannte alle Mittel, mit den weltlichen Schwierigkeiten fertig zu werden.

»Weshalb heiratest du nicht einen großen Namen? Es fehlt dir nicht an Bewerbern, wie ich weiß, und dein Vermögen, wenn nicht deine Schönheit könnten mehr als einen Edelmann in Versuchung führen. So würdest du wieder zu Rang und Namen kommen.«

Angélique dachte plötzlich an Philippe, und sie fühlte sich bei diesem neuen Gedanken erröten. Ihn heiraten? Marquise du Plessis-Bellière? Das wäre wunderbar .

»Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht, Raymond?«

»Weil du vielleicht noch nicht richtig erfaßt hast, daß du Witwe und frei bist«, erwiderte er. »Es ist eine Situation, die viele Vorteile mit sich bringt, und ich kann dir dank meiner Beziehungen vielleicht dabei helfen, auf ehrbare Weise zu hohem Rang aufzusteigen.«

»Danke, Raymond. Es wäre wunderbar«, wiederholte sie versonnen. »Ich habe viel hinter mir, du würdest es dir nicht vorstellen können. Von der ganzen Familie bin ich am tiefsten gesunken, und dabei kann man nicht behaupten, daß die Schicksale der unsrigen sonderlich glänzend waren. Warum haben wir es zu nichts Rechtem gebracht?«

»Ich bedanke mich für dieses >wir<«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln.

»Oh, Jesuit werden ist auch eine Art, es zu nichts Rechtem zu bringen. Erinnere dich, unser Vater war keineswegs sehr glücklich darüber. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn du ein gutes und gesichertes kirchliches Amt bekommen hättest. Josselin ist in Amerika verschollen. Denis, der einzige Soldat in der Familie, steht im Ruf eines Hitzkopfs und vom Spielteufel Besessenen, was noch schlimmer ist. Gontran? Reden wir nicht von ihm. Er hat sich um des Vergnügens willen, wie ein Handwerker Leinwände vollzuklecksen, aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Albert ist Page beim Marschall de Rochant. Er ist dem Chevalier zu Willen, wofern er sich nicht von den fragwürdigen Reizen der korpulenten Marschallin umgarnen läßt. Und Marie-Agnès .«

Sie hielt inne und horchte auf die kaum vernehmbaren Atemzüge, die aus dem Alkoven kamen.

Dann fuhr sie in gedämpftem Tone fort:

»Freilich hat sie sich schon in früher Jugend mit den Bauernjungen im Stroh gewälzt. Doch am Hof ist sie erst richtig auf den Geschmack gekommen. Hast du eine Vermutung, wer der Vater jenes Kindes sein könnte?«

»Ich glaube, daß sie es selbst nicht weiß«, sagte der Jesuit unverhohlen. »Aber was du vor allem in Erfahrung bringen solltest, ist, ob es sich um eine Abtreibung oder eine heimliche Entbindung handelt. Ich zittere bei dem Gedanken, sie könnte ein lebendiges kleines Wesen in den Händen dieser Catherine Monvoisin gelassen haben.«

»Ist sie zur Voisin gegangen?«

»Ich glaube. Sie hat diesen Namen gestammelt.«

»Wer geht nicht alles zu ihr?« sagte Angélique achselzuckend. »Kürzlich ist der Herzog von Vendôme als Savoyarde verkleidet bei ihr gewesen, um von ihr etwas über einen Schatz zu erfahren, den Monsieur de Turenne versteckt haben soll. Und Monsieur, der Bruder des Königs, hat sie nach Saint-Cloud kommen lassen, damit sie ihm den Teufel zeige. Ich weiß nicht, ob es ihr gelungen ist, jedenfalls hat er sie bezahlt, als ob er ihn gesehen hätte. Wahrsagerin, Abtreiberin, Gifthändlerin - sie hat viele Talente .«

Ohne zu lächeln, hörte sich Raymond diese Geschichten an. Er schloß die Augen und seufzte tief.

»Angélique, meine Schwester, ich bin entsetzt«, sagte er müde. »Das Jahrhundert, in dem wir leben, ist Zeuge so infamer Sittenlosigkeit, so grausiger Verbrechen, daß künftige Zeiten darob erschauern werden. Allein in diesem Jahr haben sich in meinem Beichtstuhl Hunderte von Frauen bezichtigt, sich ihrer Leibesfrucht auf gewaltsame Weise entledigt zu haben. Was nicht weiter verwunderlich ist, da es sich aus der allgemeinen Sittenverwilderung ergibt. Aber nahezu die Hälfte meiner Beichtkinder vertraut mir an, einen der Ihren oder sonst jemand Lästigen aus dem Wege geräumt zu haben, sei es durch Gift, sei es durch Verdächtigung des Besessenseins. Sind wir denn noch immer Barbaren? Haben die Ketzereien, indem sie die Schranken des Glaubens verrückten, unsere wahre Natur enthüllt? Es besteht ein furchtbarer Zwiespalt zwischen den Gesetzen und den Neigungen. Und der Kirche obliegt es, die Menschheit aus diesem Wirrwarr wieder auf den richtigen Weg zu führen .«